400 Kröten im Keller: Wie Deutsche bedrohte Arten retten

Wenn Thomas Ackermann von der Arbeit nach Hause kommt, zieht er sich gern erst einmal für eine Stunde in seine „Man Cave” im Keller zurück. Dort, in der „Männerhöhle“, hat sich der Förderlehrer aus Aachen auf vier mal vier Metern ein beachtliches Biotop geschaffen: ein Dutzend Terrarien voller Farne, Moose, Wasserläufe – und winziger Bewohner, die in freier Wildbahn rar geworden sind, etwa grellgelbe Pfeilgiftfrösche. „Ich beobachte die Tiere unheimlich gerne”, erzählt er begeistert.

Besonders seltene Insassen sind seine Stummelfußkröten aus Ecuador, hellgrüne Winzlinge mit schwarzen Punkten und orange leuchtenden Füßen, kaum größer als ein halber Daumen. Noch vor 15 Jahren galten sie als ausgestorben. Ein durch invasive Arten eingeschleppter Pilz, die Zerstörung ihrer Lebensräume und der Klimawandel hatten die Art nahezu ausgelöscht. Erst 2010 wurde zufällig eine kleine Restpopulation entdeckt und in ein ecuadorianisches Schutzprogramm überführt.

400 Kröten im Keller

Dass Ackermann sie seit zwei Jahren in seinem Keller hält, ist mehr als ein Hobby: Er züchtet sie für Citizen Conservation (CC) – eine gemeinnützige Initiative, die bedrohte Arten in privaten Haushalten und Schulen sichert und dabei eng mit Zoos und Wissenschaftlern zusammenarbeitet. „Als Otto Normalverbraucher kommt man an solche Tiere eigentlich nie heran“, sagt Ackermann. „Aber hier kann ich etwas beitragen, was wirklich zählt.“

Ackermann begann mit drei Paaren. Mittlerweile hat er rund 400 Stummelfußkröten nachgezogen und zeigt stolz den Nachwuchs, eine fingernagelgroße vier Monate alte Kröte. „Das ist das sicherste Zeichen, dass sich die Tiere wohlfühlen, sonst würden sie keinen Nachwuchs produzieren,“ sagt er. Die Jungkröten liefert er unter anderem an die Zoos in Zürich und Dortmund, wo weitere stabile Linien aufgebaut wurden.

Froschart im Terrarium: „Das ist wie eine dezentrale Arche Noah“
Froschart im Terrarium: „Das ist wie eine dezentrale Arche Noah“ Thomas Ackermann

„Ein Nashorn bringt Besucher. Ein Frosch nicht“

„Citizen Conservation baut darauf, dass die Zucht auf viele Schultern verteilt und über Jahre langfristig angelegt ist, damit sich so ein Tierbestand aufbauen kann und auch die genetische Vielfalt nicht leidet,” erklärt Ackermann. „Das ist wie eine dezentrale Arche Noah, aber lebendig und wachsend.“

Diese Arbeit ist dringend nötig. Laut der Weltnaturschutzunion IUCN gelten mehr als 40 Prozent aller Amphibienarten weltweit als bedroht – mehr als in jeder anderen Wirbeltiergruppe. Zoos spielen eine Schlüsselrolle im Artenschutz, doch auch sie stoßen längst an Grenzen. „Wir können nicht alle bedrohten Arten in Zoos halten“, sagt CC-Mitgründer Heiko Werning. „Es fehlen Platz, Personal, Mittel.“

Sein Co-Gründer Björn Encke bringt es trocken auf den Punkt: „Ein Nashorn bringt Besucher. Ein Frosch nicht.“ Encke wuchs im Krefelder Zoo auf, wo sein Vater Direktor war, und entdeckte dort seine Leidenschaft für Amphibien. 

Deutsche Liebe zu Aquarien

2017 starteten Encke und Werning – beide Journalisten, beide begeisterte Privathalter – Citizen Conservation. Zoos liefern Expertise, private Halter Platz und Zeit, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler begleiten die Programme.

Seit 2018 vergibt Citizen Conservation ausgewählte bedrohte Amphibien, Reptilien und Fische an geschulte Freiwillige, von einheimischen Feuersalamandern bis zu exotischen Barschen. Die Tiere bleiben Eigentum von CC, die inzwischen 250 Halter übernehmen Pflege, Dokumentation und Nachzucht von derzeit 35 Arten. 

Das Potenzial ist enorm: In deutschen Haushalten stehen mehr als drei Millionen Aquarien und Terrarien. „Wenn man nur ein Prozent davon für die Arterhaltung gewinnen könnte, wären das 30.000 Einheiten, dann würden sich die Kapazitäten sämtlicher Zoos zusammen, um ein Vielfaches erhöhen,“ meint Werning. „Eigentlich können wir uns das angesichts des Ausmaßes der Biodiversitätskrise nicht leisten, diese Potenziale liegen zu lassen.“

„Schon ein furioses Gefühl“

Wenn man Thomas Ackermann fragt, warum er sich daran beteiligt, leuchten seine Augen. Er ist seit Kindheit von Fröschen begeistert. „Ich stelle meine Ressourcen, meine Zeit, mein Futter und meine Terrarien zur Verfügung und tue damit etwas Gutes für den Artenschutz,“ sagt Ackermann, der sogar das Futter für seine Tiere, vor allem Läuse und Fliegen, selbst züchtet. „Der Vorteil ist, dass ich mit Tieren arbeiten kann, zu denen ich normalerweise nie Zugang hätte.“ Es sei „schon ein furioses Gefühl, wenn die im Zoo einen nach Expertisen fragen, das ist dann wirklich auf Augenhöhe.”

Für die CC-Gründer war klar, mit welchen Tieren das Projekt beginnen sollte: Amphibien, Reptilien und Fische. „Die Amphibien sind am stärksten betroffen und kleine Arten sind am leichtesten zu halten,“ sagt Encke. „Man kann mit ihnen im Kleinen anfangen, ohne gleich ein Gehege bauen zu müssen.“

Querzahnmolche und Geburtshelferkröten

Zugleich sind Frösche, Salamander und Molche ökologische Schlüsselarten. Ihr Verschwinden signalisiert den Kollaps ganzer Ökosysteme. „Wenn die Amphibien verschwinden, ist das wie ein Fieberthermometer, das anzeigt: Der Planet wird krank“, sagt Werning.

Der Verlust vieler Arten wurde erst bemerkt, als es zu spät war. Zu den Erfolgsgeschichten von CC zählen drei Arten, deren Grundlage für den Fortbestand nun als gesichert gilt: der Mangarahara-Buntbarsch aus Madagaskar, die Mallorca-Geburtshelferkröte, die auch Werning zuhause hält, und der Patzcuaro-Querzahnmolch aus Mexiko. „Wenn alles so weiterläuft, werden wir diese Arten auch in 40 Jahren noch haben“, sagt Encke. „Das ist mehr, als man von vielen Wildpopulationen derzeit sagen kann.“

Der Mangarahara-Buntbarsch etwa war bereits verschwunden – sowohl in der Natur als auch in der Aquaristik. „Von den letzten zwanzig Tieren, die aus einem vertrocknenden Fluss gerettet wurden, stammen heute alle Nachzuchten ab“, sagt Werning.

Eine Auswilderung ist bei den meisten Arten derzeit nicht möglich. „Konkret droht der Stummelfußkröte nicht nur die Pilzseuche, und der Lebensraum wird zerstört, derzeit wird in ihrem Gebiet wohl eine neue Goldmine aufgemacht, und dann sind die sofort wieder weg vom Fenster,“ erklärt Ackermann.

Ein Schüler hält am Wuppertaler Wilhelm-Dörpfeld-Gymnasium einen gefährdeten Feuersalamander in den Händen
Ein Schüler hält am Wuppertaler Wilhelm-Dörpfeld-Gymnasium einen gefährdeten Feuersalamander in den Händen Claudia Schweizer-Motte

Eine Schule als Mini-Arche

Dass der CC-Ansatz auch pädagogisch wirkt, zeigt das Wilhelm-Dörpfeld-Gymnasium in Wuppertal. Schulleiterin und Diplom-Biologin Claudia Schweizer-Motte, betreibt dort seit neun Jahren ein großes Schulvivarium – mittlerweile mit 42 Tierarten, sechs davon für Citizen Conservation. Behutsam nimmt sie ihre Schützlinge aus den Terrarien: Querzahnmolche, Mallorca Geburtshelferkröten, braune Knochenkopfkröten, grellgelbe Feuersalamander, vietnamesische Krokodilmolche, und fingergroße, grün-schwarzgefleckte Rotbauchunken. 

„Was man nicht kennt, kann man nicht schützen“, sagt sie. „Gerade Kinder aus städtischen Umgebungen haben oft wenig Erfahrung mit der Natur, und hier können sie auch einen Beitrag leisten.“ Rund 70 ihrer 800 Schülerinnen und Schüler engagieren sich aktiv in der AG. Die Kosten, rund 10.000 Euro im Jahr, finanziert sie fast vollständig über Spenden.

Obwohl die Terrarien halb öffentlich zugänglich sind und die Schüler viel Schaden anrichten könnten, wenn sie die Tiere freiließen, gab es noch nie ein Problem. „Im Gegenteil, wenn mal ein Besucher gegen die Glaswand klopft, stürmen gleich zehn Schüler hin und erklären, warum das die Tiere stört,“ sagt Schweizer-Motte stolz. „Manche halten auch sehr engagierte Referate über ‚ihre‘ Tiere.“

Nächster Plan: Ein Facebook für Wildtierhalter

Um das stetig wachsende Netzwerk zu koordinieren, entwickelt CC derzeit die Plattform Wild at Home, gefördert vom Bundeswirtschaftsministerium. „Die Idee ist, dass Halter ihre Tiere registrieren, Zuchtbücher führen und sich austauschen können – eine Mischung aus Mini-Sims und Facebook für Wildtierhaltende“, erklärt Encke. „Man könnte erstmals sehen, welche Arten wo gehalten werden, wie sich Populationen entwickeln, oder ob eine Art verschwindet, weil ein langjähriger Züchter ausfällt.“

Für Encke wäre das ein Quantensprung: „Das würde uns ermöglichen, Trends zu erkennen, bevor es zu spät ist. Beim Mangarahara-Buntbarsch war das anders – da war der Fluss schon trocken, als wir gemerkt haben, dass die Art weg ist.“

Das Thema ist hochaktuell. In der EU wird derzeit über eine stärkere Regulierung des Exotenhandels debattiert. Encke war kürzlich zu einer Anhörung der EU-Kommission eingeladen. „Dort wurde schnell klar: Ziel war nicht ‚reframing‘, sondern ‚reduction‘ – also die Reduktion der Wildtierhaltung an sich“, berichtet er. „Citizen Conservation ist da ein wichtiges Gegenbeispiel. Es zeigt, dass verantwortliche Haltung ein Teil der Lösung sein kann, nicht des Problems.“

„Was man nicht kennt, kann man nicht schützen“: In Wuppertal kümmern sich die Schülerinnen und Schüler um mittlerweile 42 Tierarten
„Was man nicht kennt, kann man nicht schützen“: In Wuppertal kümmern sich die Schülerinnen und Schüler um mittlerweile 42 Tierarten Claudia Schweizer-Motte

„Unsere Frösche sind gar nicht giftig“

Auch in Deutschland flammt die Debatte regelmäßig auf, etwa, wenn eine Giftschlange entkommt. „Dann fordern alle gleich ein Haltungsverbot“, sagt Werning. „Aber meist war das Tier gar nicht legal registriert. Wir setzen auf klare Regeln statt pauschale Verbote.“

Gefährliche oder giftige Arten sind im CC-Portfolio derzeit ohnehin nicht vertreten. „Unsere Frösche sind gar nicht giftig“, sagt Encke lachend. „Sie verlieren ihre Giftigkeit in Gefangenschaft, weil sie hier keine giftigen Insekten fressen. Das wissen selbst manche Politiker nicht.“

Als im Herbst letzten Jahres mehrere Dutzend extrem seltene Alpensalamander im Keller eines Wilderers beschlagnahmt wurden, reagierte der zur Hilfe gerufene Salamander-Experte und Privathalter Uwe Seidel umgehend und informierte Citizen Conservation über den Fund: „Mir war sofort klar, dass diese Tiere einen unschätzbaren Wert für die Arterhaltung haben und unbedingt in ein Schutzprojekt gehören,“ sagt er.

Seidel, der im wissenschaftlichen Beirat von CC sitzt, päppelte die teils mangelernährten Tiere wieder auf und Citizen Conservation half, sie gemeinsam mit dem Erlebnis-Zoo Hannover und der Wildtier- und Artenschutzstation Sachsenhagen in ein Schutzprogramm zu überführen. 

„Du rettest eine Art – und sie lebt bei dir zu Hause“

Encke ärgert sich über die Verniedlichung vieler Artenschutzprogramme. „Oft wird das als nettes Hobby gesehen – so nach dem Motto: ‚Na, was machen die Frösche?‘“, sagt er. „Aber das ist kein Folkloreprojekt. Wir reden hier über die Zukunft von Ökosystemen, und damit über die Lebensgrundlagen der Menschen.“

Für ihn ist Citizen Conservation auch eine Frage der gesellschaftlichen Verantwortung. „Was wir tun, ist kein Nischenprojekt, sondern gelebter Artenschutz,“ sagt Encke. „Das ist am Ende eine Frage der Menschenrechte – ob wir künftigen Generationen eine lebensfähige Umwelt hinterlassen.“

Die Zahl der Arten, die Rettungszuchten brauchen, wächst unaufhörlich, und mit ihnen die Aufgabe von CC. Die Organisation würde gerne expandieren und weitere Tierarten aufnehmen, aber der Erfolg hat Grenzen: CC arbeitet mit nur zweieinhalb Personalstellen. „Wir betreuen derzeit rund 35 Arten, könnten aber problemlos 100 oder 200 managen“, sagt Encke. „Aber dafür braucht es Geld und langfristige Strukturen.“ Denn jede neu aufgenommene Art bedeutet ein Versprechen über mindestens vier Jahrzehnte.

„Wir können nicht alle Arten retten“, ergänzt Encke. „Aber wir können verhindern, dass noch mehr verschwinden, wenn wir alle an einem Strang ziehen.“ In einer Zeit, in der die Artenvielfalt kollabiert, steht CC für einen neuen Weg: Artenschutz als Teilhabeprojekt, getragen von Bürgerinnen und Bürgern, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Oder wie Werning es formuliert: „Es ist die schönste Form von Engagement: Du rettest eine Art – und sie lebt bei dir zu Hause.“

Anmerkung der Redaktion: In einer ersten Version dieses Textes hieß es irrtümlich, Thomas Ackermann habe Jungkröten unter anderem an die Zoos in Basel und Karlsruhe geliefert, wo weitere stabile Linien aufgebaut wurden. Das ist falsch: Die belieferten Zoos waren in Zürich und Dortmund. Wir bitten den Fehler zu entschuldigen.

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