Umstrittene Praxis - Übler Straftäter-Trick macht die Runde: "Täter kommen viel zu einfach davon"

Can H. kann sich glücklich schätzen. Im Juni 2024 zu fünfeinhalb Jahren durch das Kölner Landgericht verurteilt, siedelte der Corona-Testzentren-Betrüger vor einigen Wochen in den offenen Vollzug nach Euskirchen über. Dies bestätigte sein Verteidiger Ulrich Sommer FOCUS online. Der Anwalt rechnet damit, dass sein Mandant nach zwei Dritteln der verbüßten Haftstrafe entlassen wird.

NRW: Besonders lax im Umgang mit Straftätern

Der 40 Jahre alte Deutsch-Türke fuhr gerne mit einem Ferrari oder einem Lamborghini durch die Gegend. Finanziert hatte Can H. die Luxusschlitten durch Betrug und Steuerhinterziehung mit falschen Abrechnungen seiner Corona-Testzentren in Köln, Euskirchen, dem Rhein-Erft-Kreis und im Kreis Neuss. Knapp sechs Millionen Euro hatte er laut dem Gerichtsurteil so ergaunert.

Im offenen Vollzug soll der Betrüger „an ein Leben in Freiheit gewöhnt werden“, erklärt Sommer. Das heißt: Der Straftäter kann tagsüber draußen einer Arbeit nachgehen und muss nur abends wieder in die Haftanstalt zurückkehren, um dort die Nacht zu verbringen. In einem Gebäude, das von einem hohen grünen Zaun statt einer Mauer mit Stacheldraht umgeben ist.

NRW gilt als besonders lax im Umgang mit Straftätern. Etwa jeder dritte der landesweit knapp 11.000 verurteilten Kriminellen kann tagsüber sein Haftzimmer verlassen. Mit einer Quote von 32 Prozent liegt der offene Vollzug in NRW weit über den meist einstelligen Prozent-Raten anderer Bundesländer.

„In Berlin und Nordrhein-Westfalen befinden sich Stichtags-bezogen sechs- bis zehnmal so viele Gefangene im offenen Vollzug wie in Bayern, Hessen, Sachsen, Sachsen-Anhalt oder Thüringen“, heißt es in einer Analyse der Universität Greifswald. „Ähnliche Unterschiede“ fänden sich bei den Vollzugslockerungen, bei denen unter anderem bis zu 21 Tage Hafturlaub im Jahr gewährt werden kann.

Gefängnis-Touristen pilgern Richtung Rhein und Ruhr

Nirgendwo in Deutschland ist es so einfach wie in Nordrhein-Westfalen und Berlin, als Straftäter relativ schnell in einer offenen Haftanstalt unterzukommen. Nach FOCUS online-Informationen entwickelt sich mittlerweile schon ein regelrechter Strafvollzugstourismus Richtung Rhein und Ruhr. 

Wie andere Anwälte bestätigt auch Strafverteidiger Sommer diesen Trend: „Ich bekomme immer wieder Anfragen verurteilter Straftäter aus anderen Bundesländern und erteile den Rechtsrat, ihren Wohnsitz in NRW zu nehmen.“ Denn dann verbessern sich die Aussichten, alsbald aus der Zelle in den offenen Vollzug zu gelangen.

Die Gefängnis-Touristen kommen dem Vernehmen nach vor allem aus den Bundesländern Hessen, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Bayern, in denen ein rigider Haftalltag droht. Und der Trick ist simpel: Es reicht, dass die Straftäter ihren Wohnsitz nur kurz vor oder nach der Urteilsverkündung nach NRW verlegen, weil Verbrecher ihre Strafen stets in der Nähe des Wohnorts verbüßen sollen.

Kölner Staatsanwalt spricht von „Gerechtigkeitslücke“ in NRW

Eine Masche, die vielen Strafverfolgern übel aufstößt. Wer nachfragt, wird schnell fündig. „Wir ermitteln oft jahrelang, aber dann kommen die Täter mit diesem Trick viel zu einfach davon“, schimpft beispielsweise ein Staatsanwalt aus Süddeutschland. „Das Phänomen ist grundsätzlich bekannt“, ergänzt die Sprecherin der Staatsanwaltschaft München I auf Anfrage. „Genaue belastbare Aussagen zu Zahlen können wir aber nicht treffen.“

Auch in Niedersachsen sei der Knacki-Tourismus bekannt, ergänzt der Sprecher der Osnabrücker Staatsanwaltschaft. Durch die im bundesweiten Vergleich großzügigeren Hafterleichterungen in NRW gebe es halt „eine Gerechtigkeitslücke“, schimpft ein Kölner Staatsanwalt: „Sonst käme die Horde verurteilter Straftäter doch gar nicht hierhin, von denen einige dann unerträglich schnell wieder auf die Straße dürfen.“

Auch Jesco Kümmel, Sprecher der Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main, ärgert sich über den „sogenannten Vollzugstourismus", der vor allem in den Bundesländern Nordrhein-Westfalen und Berlin stattfinde. „Entsprechende Wohnsitzverlegungen“ seien „im hiesigen Zuständigkeitsbereich auch tagesaktuell weiterhin zu verzeichnen“. 

Mohamad B. und die Tücken des Förderalismus

Dies geschehe „nicht nur kurze Zeit vor der Ladung zum Strafantritt, sondern zunehmend auch bereits während des noch laufenden Verfahrens, also der Einleitung des Vollstreckungsverfahrens zeitlich deutlich vorgelagert“, so Kümmel. Letzteres erschwere es, „Scheinwohnsitzverlegungen aufzudecken“. So bestehe die Gefahr, „dass Fälle des Vollzugstourismus letztlich nicht gerichtsfest nachgewiesen werden können“.

Seit der Föderalismusreform weben die 16 Bundesländer einen Flickenteppich im Strafvollzug, in dem sich die Regeln oft unterscheiden. In NRW können die Justizvollzugsanstalten (JVA) zudem in Eigenregie über die Zellenkarriere ihrer Insassen entscheiden. Als sogenannte „Einweisungsanstalten“ organisieren diese einen Vollzugsplan für die Betroffenen. Je nach Prognose bleiben die Häftlinge in einer geschlossenen Einrichtung oder gelangen in offene Anstalten wie in Euskirchen. Die Staatsanwaltschaft als Strafvollstreckungsbehörde bleibt außen vor.

Das führt inzwischen zu absurden Entwicklungen. So verurteilte das Landgericht Essen einen syrischen Großdealer mit Verbindungen zu Ex-Diktator Baschar al-Assad zu knapp elf Jahren Gefängnis. Mohamad B., 42, hatte mit seiner Bande tonnenweise das Aufputschmittel Captagon sowie Kokain und Haschisch vertrieben. Der Schuldspruch fiel im Herbst 2022, anderthalb Jahre später, so berichtet der „Spiegel“, durfte der Schwerkriminelle nach einer wohlwollenden Prognose der zuständigen Einweisungskommission der JVA Hagen in den offenen Vollzug nach Euskirchen wechseln.

Staatsanwaltschaft Essen kritisiert vorzeitige Verlegung

„Die Staatsanwaltschaft Essen hält die getroffene Entscheidung für nicht sachgerecht und ist ihr mit einer umfassenden Argumentation entgegengetreten“, berichtete Behördensprecher Leif Seeger FOCUS online. So warnten die Strafverfolger davor, dass der Verurteilte vor seiner Inhaftierung über keine feste Arbeitsstelle verfügte und mit Sozialleistungen sowie dem Betäubungsmittelhandel seinen Lebensunterhalt bestritten habe.

„Er ist syrischer Staatsbürger, lebte vor seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland im Libanon, gelangte mit Falschpersonalien in die EU und muss zumindest angesichts der hiesigen rechtskräftigen Verurteilung eine Abschiebung durch das zuständige Ausländeramt befürchten“, betonte der Essener Staatsanwalt. 

Zudem unterhalte der Drogen-Großhändler zahlreiche familiäre Beziehungen in seine syrische Heimat. „Er hatte jedenfalls in der Vergangenheit im Zuge der kriminellen Zusammenarbeit Kontakte zu Hintermännern beziehungsweise Kontaktpersonen, die zu seiner Aufnahme bereit sein könnten“, fürchtet Seeger. „Aufgrund dieser Gesamtsituation und einer Strafvollstreckung noch bis 2032 besteht nach Ansicht der Staatsanwaltschaft Essen die Gefahr, dass sich der Verurteilte dem Verfahren entziehen und ins Ausland absetzen könnte.“

FDP-Sprecher: „Verheerendes Signal an die organisierte Kriminalität“

Die Essener Anklagebehörde fand mit ihren Bedenken bei der JVA Hagen kein Gehör. So musste die Staatsanwaltschaft den Wechsel in den offenen Vollzug hinnehmen. Werner Pfeil, rechtspolitischer Sprecher der FDP-Landtagsfraktion NRW, kritisiert: „Der Strafvollzug in NRW darf sich nicht lächerlich machen." Der offene Vollzug sei zwar ein Mittel der Resozialisierung. „Das setzt aber auch eine bestimmte Zeit des Absitzens der Strafe voraus“, so der Liberale. 

Es sei daher „kaum nachvollziehbar, dass ein verurteilter Schwerkrimineller, der enge Verbindungen zu internationalen Drogenkartellen unterhält und bereits mit falschen Identitäten operiert hat, nach weniger als zwei Jahren Haft tagsüber auf freien Fuß“ komme. „Derartige Entscheidungen untergraben das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in durchgeführte Strafverfahren“, kritisiert Pfeil: „Wenn man zu knapp elf Jahren verurteilt wurde und nach 24 Monaten im offenen Vollzug wechseln darf, sendet das ein verheerendes Signal an die organisierte Kriminalität.“

NRW-Justizminister verteidigt „liberalere, lockerungsfreundliche Vollzugspraxis“

NRW-Justizminister Benjamin Limbach (Grüne) kann die Aufregung nicht verstehen. „Ziel des modernen Strafvollzuges ist nicht Vergeltung und Sühne, sondern die Resozialisierung der Gefangenen, also die Befähigung der Gefangenen, künftig ein Leben in sozialer Verantwortung ohne Straftaten zu führen“, erklärt Maurits Steinebach, Sprecher der Justizvollzugsdirektion NRW, stellvertretend für den Minister.

Nach dem Landes-Strafvollzugsgesetz müsse das Leben in Haft so weit wie möglich den allgemeinen Lebensverhältnissen angeglichen werden. Die Behandlung sei darauf ausrichtet, dass die Gefangenen sich nach der Entlassung in ein Leben in Freiheit eingliedern könnten, so Steinebach: „Unter diesen Rahmenbedingungen ist der offene Vollzug in Nordrhein-Westfalen keine Belohnung für beanstandungsfreies Verhalten, sondern eine bedeutende Behandlungsmaßnahme.“ 

Die „liberalere, lockerungsfreundliche Vollzugspraxis“ jedenfalls habe nicht „zu einer Einbuße an Sicherheit für die Allgemeinheit geführt, indem Gefangene Lockerungen missbrauchen“, heißt es in einem Papier des nordrhein-westfälischen Justizministeriums.

Fall Werner H. : „Entlassung nach Halbstrafe“ 

Der Missbrauch von Lockerungen ist das eine. Aber wie steht es um die abschreckende Wirkung von Haftstrafen, wenn von diesen nur ein geringer Teil abgesessen werden muss? Wie etwa im Fall von Werner H. Der einstige Football-Spieler und Chef einer Kölner Security Firma wurde nach einem Jahr in Untersuchungshaft am 23. März 2022 zu vier Jahren und acht Monaten Haft verurteilt. Der heute 54 Jahre alte Unternehmer hatte durch Betrügereien, Insolvenzvergehen, Untreue und Steuerhinterziehung einen Schaden in zweistelliger Millionenhöhe verursacht.

Nach seiner Verurteilung kam er zunächst auf freien Fuß. Und als er im November 2022 seine Reststrafe in der JVA Euskirchen antreten wollte, durfte H. nach FOCUS-online-Informationen sofort wieder in den offenen Vollzug. Etwa vierzehn Monate später, als er die Hälfte seiner Haftstrafe verbüßt hatte, ging es mit der vorzeitigen Entlassung komplett zurück in die Freiheit. 

Dies sei doch viel zu früh, hatten Staatsanwaltschaft und Generalstaatsanwaltschaft Köln zuvor lautstark protestiert. Der Mann müsse länger in Haft bleiben. „Eine Entlassung nach Halbstrafe“ sei schließlich nur in absoluten Ausnahmefällen möglich, argumentierten die Ermittler. Erfolglos.