„F-16-Dilemma der Ukraine“: Kiews Luftstreitkräfte stehen vor Problemen

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Die Jets allein sind zu wenig: Beobachter bemängeln das fehlende Konzept in den ukrainischen Streitkräften; das macht die Einsätze für deren Piloten zu Himmelfahrtskommandos. © Marcus Brandt/dpa

Den Luftraum unterschätzt, die Waffe überschätzt: Analysen sprechen von einer Überforderung der ukrainischen Luftwaffe. Die F-16 sind bisher nutzlos.

Kiew – Die Ukraine benötige eine Strategie, die Luft- und Bodeneinsätze kombiniere, schreiben David Deptula und Christopher Bowie. „Nur mittels dieses integrierten Ansatzes, der eine Synergie schafft zwischen Operationen am Boden und in der Luft, kann sich die Ukraine ein Momentum auf dem Gefechtsfeld schaffen und bewahren“, behaupten die beiden Analysten des Thinktank Mitchell Institute. Der F-16-Kampfjet allein könne wenig helfen gegen Wladimir Putin. Im Gegenteil: „Das F-16-Dilemma der Ukraine ist größer, als man auf den ersten Blick sieht“, behauptet Ralph D. Thiele aktuell gegenüber dem Magazin Focus Online.

Auftauchen der F-16-Kampfjets ist ein Sieg für Ukraine im Kampf gegen Putins Russland

Der ehemalige Oberst mahnt öffentlich, dass um den westlichen F-16-Kampfjet ein System aufgebaut werden müsste, und die Ukraine in ihrem Bemühen um Verteidigung zu forsch agiert; zwischen den Zeilen seines Interviews mit dem Focus klagt er die Verteidiger an, dass sie ihren ersten verloren gegangenen Flieger selbst zu verantworten hätten – zwar ist noch unbewiesen, dass die Ukraine die F-16 selbst versehentlich abgeschossen hätten, aber Thiele geht davon aus.

„Das jüngste Auftauchen von F-16-Kampfflugzeugen am Himmel über der Ukraine ist ein Sieg für alle Ukrainer und insbesondere für die relativ kleine Gruppe von Menschen, die unermüdlich daran gearbeitet haben, die Idee der Lieferung der Flugzeuge voranzutreiben.“

Vielleicht hatte sich die Ukraine zu früh gefreut – das vermutet Olena Tregub: „Das jüngste Auftauchen von F-16-Kampfflugzeugen am Himmel über der Ukraine ist ein Sieg für alle Ukrainer und insbesondere für die relativ kleine Gruppe von Menschen, die unermüdlich daran gearbeitet haben, die Idee der Lieferung der Flugzeuge voranzutreiben. Der Vorstoß zur Beschaffung von F-16-Flugzeugen begann als Grassroots-Initiative der ukrainischen Zivilgesellschaft und des Militärs, bevor er von der politischen Führung des Landes übernommen wurde“, schreibt die Mitarbeiterin des ukrainischen Verteidigungsministeriums für den Thinktank Atlantic Council über die Lieferung der F-16-Kampfjets.

F-16-Kampfjets im Einsatz in der Ukraine: Fliegende Nato-Artillerie der Ukraine ist bisher weitgehend gefloppt

Der britische Guardian sprach von Äußerungen von US-Militärs, wonach eine jahrelange Ausbildung vonnöten sei, um die F-16-Kampfjets effektiv im Kampf einsetzen zu können. Das beschränke den Einfluss dieser Flugzeuge auf die Verteidigung der Ukraine in der nahen Zukunft: „Es geht um die langfristige Unterstützung der Ukraine“, sagte Pentagon-Sprecher Ryder dem Guardian. „Es geht nicht um die Gegenoffensive, die sie gerade führen.“ Gegenüber der New York Times äußerten sich anonyme Stimmen, die eine Ursache für den Absturz der ersten ukrainischen F-16 vermuten „in einer bürokratischen Befehlsstruktur, die allzu oft jene belohnte, die Autoritäten nicht infrage stellten und deren Denken möglicherweise überholt sei“.

Gegenüber dem Focus mutmaßt Thiele, dass die Ukraine womöglich den Kampfraum unterschätze und – im Verhältnis dazu – die Effektivität der F-16-Kampfjets überschätze. Die F-16 solle vorrangig als fliegende Artillerie eingesetzt werden, vermuten Experten. Luftkämpfe zweier gegnerischer Maschinen sind kaum zu erwarten. Moderne Kampfjets sind technisch so ausgereift, dass sie sich nur noch in Ausnahmefällen direkt in der Luft gegenüberstehen. Ausgestattet mit Computern, Sensoren, Täuschkörpern und selbstlenkenden Raketen kämpfen die Jets aus großer Entfernung – sowohl in der Luft als auch gegen Ziele am Boden“, schreibt die Bundeswehr in ihrem Magazin Y. 

Ukraine setzt auch den Faktor Zeit gegen Russland: Mehr Kampfjets, mehr Piloten, mehr Erfahrung

„Das sind keine Aufgaben, die durch die Lieferung weniger Flugzeuge gelöst werden können. Es handelt sich um hochkomplexe Vorgänge, die Jahre der Vorbereitung erfordern,“, äußert Oberst a. D. Thiele im Focus. Eine Handvoll Maschinen mit einer kleinen Schar Piloten könne das kaum leisten, so Thiele. Der Verlust dieses ersten westlichen Kampfjets sei jetzt eine schwere Hypothek für die Zukunft des Ukraine-Krieges – so die Prognose des Thinktank Institute for the Study of War. Dieser Verlust eines einzigen F-16-Flugzeugs werde die Luftverteidigung der Ukraine erheblich beeinträchtigen, da nur eine begrenzte Zahl von Jets und ausgebildeten Piloten zur Verfügung stehe, schreibt das ISW.

Olena Tregub äußerte dazu Anfang August mehr Zuversicht; sie setzte auf den Faktor Zeit: Durch eine größere Zahl an F-16-Kampfjets in den kommenden Monaten und eines Wachsens des Pilotenpools an Köpfen und Erfahrung, „werden wir diese Jets wahrscheinlich für abenteuerlichere Zwecke eingesetzt sehen“, wie sie für Atlantic Council schreibt. Darauf folgen könnten Langstreckenangriffe auf russische Flugzeuge und Hubschrauber, die in der Nähe der Frontlinien operierten, prognostiziert Tregub. Ihr sei aber zunächst daran gelegen, die Zivilbevölkerung besser zu schützen, indem die Luftverteidigung lückenloser und schlagkräftiger funktionierte.

Statt F-16-Kampfjets: Gegen russische Raketen setzt die Ukraine jetzt Luftraumüberwachung ein

Was ihr vermutlich schon gut gelingt – wenn die F-16 tatsächlich von den eigenen Leuten vom Himmel geholt worden war. „Zudem spielt sich der Luftkrieg in einem stark segmentierten Luftraum ab, was es schwierig macht, Freund und Feind zu unterscheiden“, sagt Thiele gegenüber dem Focus. Er vermisst neben der Diskussion um die Maschinen an sich und deren Bewaffnung das System, in dem die F-16-Kampfjets für ihre volle Funktionstüchtigkeit integriert sein müssten – sowohl in der Luft wie am Boden.

In der Luft müsste die ukrainische Luftwaffe eingebettet sein in eine umfangreiche Aufklärung durch Satelliten und AWACS-Flugzeuge (Airborne Early Warning and Control System); Maschinen mit zum Teil pilzförmigen Aufbauten. Wie beispielsweise das Magazin The Aviationist meldet, hätte Schweden im Mai angekündigt, der Ukraine zwei Saab 340B AEW&C-Flugzeuge zu überlassen. Die Überwachungsreichweite dessen Systems soll sich erstrecken über 500.000 Quadratkilometer im Umkreis und einer Höhe von fast 20 Kilometern, wie der Aviationist schreibt.

Effektiver Einsatz der F-16-Kampfjets in der Ukraine: Experte fehlt dringend benötigte Stütze im Kampf gegen Russland

Kampfflugzeugen, schwebende Hubschrauber, Marschflugkörper und sogar Seeziele klein wie ein Jetski – oder eine Überwasserdrohne – sollen sich darauf abbilden. Laut Thiele wäre das eine dringend benötigte Stütze, um die F-16-Kampfjets effektiv nutzbar zu machen.

Allerdings sei selbst damit nur ein Teilerfolg erzielt. David Deptula und Christopher Bowie sehen Schwächen in der Abstimmung zwischen dem Aufspüren von Bedrohungen aus der Luft, dem Kommando der Luftabwehr und den Wirkmitteln. Wie der vermeintliche Abschuss der eigenen F-16 bewiesen zu haben scheint, fehle die schnell funktionierende Freund-Feind-Erkennung in der Luftaufklärung sowie die sichere Weitergabe dieser Informationen an die eigentliche bodengestützte Luftabwehr.

Neue F-16-Kampfjets: Die ‚Flotte im Werden‘ gegen Putin lässt wohl noch lange auf sich warten

Die Ukraine benötige nahezu zwölf Jagdstaffeln, um die für den Bodenkrieg erforderliche Luftunterstützung zu gewährleisten, kalkulieren Christopher Koeltzow, Brent Peterson und Eric Williams. Beide halten eine größere Luftflotte nötig für die Kernaufgaben der F-16-Kampfjets im Ukraine-Krieg: Unterdrückung der feindlichen Luftabwehr, Luftabwehr gegen Marschflugkörper und defensive, vom Boden ausgehende Luftabwehr. „Dieses Ziel würde 216 F-16 mit jeweils 18 Flugzeugen pro Staffel erfordern“, schreiben aktuell die Analysten des Center for Strategic and International Studies (CSIS).

„Um eine strategische ‚Flotte im Werden‘ zu schaffen, die Russland respektieren muss, ist die Größe der F-16-Flotte wichtig“, schreiben sie. Beobachter hatten schon lange davor gewarnt, die Maschinen aus blindem Aktionismus heraus einzusetzen – bisher hatte die Ukraine auch noch keine Strategie des Einsatzes erkennen lassen. Der Einsatz des ersten F-16-Kampfjets war scheinbar auch ein Solo-Flug statt eines kompakteren Angriffs innerhalb einer konkreten Strategie. Möglicherweise werden die Waffen in der Ukraine anders eingesetzt, als sich das die Militärs im Westen gewünscht und die Ingenieure dann umgesetzt haben.

Wie am Einsatz der West-Panzer ersichtlich geworden war, wie Thiele erinnert: „Das jetzige Vorhaben mit den F-16 ist ein riesiges Wagnis, das erst in einigen Jahren den gewünschten Nutzen stiften könnte, wenn es erfolgreich ist.“

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