Falsche Missbrauchsvorwürfe - Schockstarre bei Grünen: Partei-Chefs sollen Gelbhaar zu Rückzug gedrängt haben
Ein Wochenende lang befanden sich die Grünen in Schockstarre. Die Partei fand keinen Umgang mit der neuen Lage, nachdem sich Belästigungsvorwürfe gegen ihren Berliner Bundestagsabgeordneten Stefan Gelbhaar am Freitagabend in wesentlichen Punkten als wahrscheinlich falsch herausgestellt haben.
Sowohl die Berliner Landesvorsitzenden, Nina Stahr und Philmon Ghirmai, als auch die Bundesvorsitzenden, Franziska Brantner und Felix Banaszak, hatten Gelbhaar Anfang Januar öffentlich zum Rückzug aufgefordert.
Unmittelbar darauf machten die Grünen in Berlin-Pankow am 8. Januar Julia Schneider statt Gelbhaar zu ihrer Direktkandidatin für die Bundestagswahl.
Gelbhaar zog Kandidatur zurück, wohl auf Drängen des Grünen-Bundesvorstands
Dem nächsten Bundestag wird Gelbhaar damit definitiv nicht mehr angehören. Denn zuvor hatte der 48-Jährige Mitte Dezember bereits seine Kandidatur für einen Listenplatz der Partei zurückgezogen. Er reagierte damit darauf, dass die Ombudsstelle der Partei ein Verfahren gegen ihn begonnen hatte.
Nach Tagesspiegel-Informationen war Gelbhaar vom Bundesvorstand zu diesem Schritt gedrängt worden. Haben die Grünen damit auf der Basis von falschen Anschuldigungen die politische Karriere ihres einzigen direkt gewählten Bundestagsabgeordneten in Ostdeutschland zerstört?
Wenig souveräner Habeck
Solche Fragen zum Fall Gelbhaar wollte ihr Kanzlerkandidat Robert Habeck am Sonntag im TV-Sender RTL nicht beantworten – womöglich auch, weil sein Wahlkampfmanager Andreas Audretsch zuvor bei der Listenaufstellung der Grünen in Berlin der Nutznießer von Gelbhaars Rückzug war.
Derzeit spricht zwar nichts dafür, dass Audretsch in eine Intrige gegen Gelbhaar verwickelt ist. Dennoch wurde am Wochenende über Audretschs Rolle in mehreren Medien spekuliert. Doch Habeck wirkte wenig souverän, als RTL-Moderatorin Roberta Bielang seine Bedingung für das Interview öffentlich machte.
Baerbock weist dem RBB die Hauptschuld zu
Seine Co-Spitzenkandidatin Annalena Baerbock schlug sich im ZDF kaum besser. Sie verwies auf ihr Amt als Außenministerin, um Fragen zu Gelbhaar auszuweichen. Die Hauptschuld für die Beschädigung von Gelbhaar wies Baerbock dem Sender RBB zu, der die falschen Belästigungs-Anschuldigungen der früheren Berliner Grünen-Lokalpolitikerin Shirin Kreße öffentlich gemacht hatte.
Auch am Montag ging Habeck nur zurückhaltend auf den Fall um den 48-jährigen Stefan Gelbhaar ein. „Die Vorgänge im Berliner Landesverband sind gravierend und auch schockierend“, sagte der Wirtschaftsminister am Rande einer Wahlkampfveranstaltung in Berlin: „Es muss unbedingt schnell und rücksichtslos aufgeklärt werden, was da eigentlich passiert ist, und auch die Konsequenzen gezogen werden.“
Gegen Shirin Kreße, die aus Partei ausgetreten ist, wollen die Grünen weiter vorgehen
In der Parteizentrale am Neuen Tor mühte sich derweil der Bundesvorstand, die richtigen Schlüsse aus der Affäre zu ziehen. „Stefan Gelbhaar ist Schaden zugefügt worden. Wir bedauern das ausdrücklich“, sagte Banaszak, als er schließlich mit einer Stunde Verspätung vor die Presse trat.
Gegen Kreße, die inzwischen aus Partei ausgetreten ist, wollen die Grünen weiter vorgehen. Parteichefin Brantner teilte mit, dass man Strafanzeige sowohl „gegen die benannte Person als auch gegen Unbekannt“ gestellt habe.
Neues Untersuchungsverfahren im Fall Gelbhaar
Für Stefan Gelbhaar ist die Sache damit noch nicht ausgestanden. Ein Verfahren gegen ihn wegen möglicher sexueller Übergriffe bei der Ombudsstelle des Bundesvorstands wird zwar eingestellt. Durch die falschen Anschuldigungen sei die Untersuchung kompromittiert, sagte Brantner zur Begründung.
Allerdings halten sieben Personen weiter Vorwürfe gegen Gelbhaar aufrecht. Diese soll nun eine eigens eingerichtete Kommission untersuchen. Geleitet wird dieses Gremium von Schleswig-Holsteins ehemaliger Justizministerin Anne Lütkes und dem langjährigen Bundestagsabgeordneten und Mitglied des bayerischen Verfassungsgerichtshofs, Jerzy Montag. Die Kommission habe die Aufgabe, die vorhandenen Fälle aufzuklären und etwaige Konsequenzen für künftige Verfahren aufzuzeigen, sagte Brantner.
Die Landesspitze der Berliner Grünen begrüßt die Ankündigung der Bundespartei, die Belästigungsvorwürfe durch eine eigene Kommission klären zu lassen. „Wenn Parteimitglieder grenzüberschreitendes Verhalten melden, nehmen wir das sehr ernst. Es liegen noch immer mehrere Meldungen vor“, so die beiden Landesvorsitzenden Nina Stahr und Philmon Ghirmai. „Daher ist es richtig, dass der Bundesvorstand nun eine eigene Kommission eingerichtet hat, die diesen Meldungen nun in einem neu aufgesetzten Verfahren nachgeht.“
Ob dieser Schritt allein reicht, um die Partei zu beruhigen, bleibt abzuwarten. Denn insbesondere viele Realos sind schockiert, dass die Ombudsstelle und der Parteivorstand die Vorwürfe gegen Gelbhaar nicht mehr hinterfragten.
Von Caspar Schwietering
Das Original zu diesem Beitrag "Nachfolgerin von Stefan Gelbhaar: Berliner Grünenpolitikerin Julia Schneider hält an Kandidatur fest" stammt von Tagesspiegel.