„Eindeutig“: Putin büßt gesamte Panzerflotte ein – und kämpft unbeirrbar weiter
Implodiert die Wirtschaft oder kann sie eine Niederlage einstecken? Experten streiten seit Jahren, was Russland kann. Putin schafft weiter Fakten.
Moskau – „Russland kann es sich leisten, in der Ukraine eine Niederlage einzustecken“, schreiben Collin Meisel und Mathew Burrows. Die beiden Autoren des Magazins War on the Rocks vertreten damit die gegenteilige These zu den oft geäußerten Vermutungen, Wladimir Putins Invasionsarmee gingen die Fahrzeuge so weit aus, dass die russische Panzerwaffe quasi ausblute und Russland kurz vor dem Ende seiner Kräfte stehe. Im Gegensatz dazu scheinen Meldungen über russische Verluste eine schier unendliche Geschichte zu werden. Wie der Kiyv Independent( KI) aktuell berichtet, hätte sich Oleksandr Syrskyi damit gebrüstet, seit Beginn dieses Jahres 1.159 russische Panzer „besiegt“ zu haben.

Der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte addierte gegenüber der Kyiv Independent neben den Kampfpanzer-Verlusten noch 2.510 gepanzerte Fahrzeuge der Russen dazu, machte aber keine Angaben ob unter „besiegt“ zu verstehen sei, dass diese Fahrzeuge lediglich beschädigt oder vollständig außer Gefecht gesetzt worden waren. Ebenfalls ohne diese Unterscheidung habe der ukrainische Generalstab veröffentlicht, Russland habe seit Beginn der völkerrechtswidrigen Invasion der Ukraine im Februar 2022 insgesamt 10.832 Panzer verloren, dazu 22.645 andere gepanzerte Fahrzeuge – eine unabhängige Überprüfung dieser Behauptung allerdings ist unmöglich.
Ukraine-Krieg: „Ein erfolgreicher Zermürbungskrieg konzentriert sich auf den Erhalt der eigenen Kampfkraft“
„Ein erfolgreicher Zermürbungskrieg konzentriert sich auf den Erhalt der eigenen Kampfkraft“, schrieb Alex Vershinin bereits im März 2024, als der Krieg bereits zwei Jahre alt war und länger gedauert hat, als russische Strategen das vorausgeahnt hatten. Die größten Verluste hat Russland in dieser Zeit einstecken müssen, weil die Ukraine zäher verteidigt hat als angenommen und die aus Sowjetzeiten übernommenen taktischen Prämissen des schieren Hineinwalzen in den Gegner nicht mehr verfingen. Russland hatte lernen müssen, von den Beständen zu zehren, analysierte Vershinin für den britischen Thinktank Royal United Services Institute (RUSI).
„Die russische Militärindustrie bleibt eine beeindruckende Maschine. Sie wird wahrscheinlich weiterhin in der Lage sein, sich durchzuwursteln und ‚ausreichend gute‘ Systeme zu produzieren, die noch immer eine erhebliche Bedrohung für die Ukraine, die Nato und ihre Verbündeten darstellen.“
War on the Rocks macht am Beispiel des modernen T-90-Panzers deutlich, dass wenn der Ersatz beziehungsweise der Neubau dieser Waffe durch den Zermürbungskrieg am Boden liege, Russland womöglich sogar auf dieses Modell verzichten könnte, wie Meisel und Burrows mutmaßen: „Selbst wenn die Verluste weiter steigen, behaupten einige Analysten, dass Russland seine jüngste Verlustrate bis 2026 oder 2027 aufrechterhalten kann. Diese Tatsache ist den Ukrainern auf dem Schlachtfeld offenbar durchaus bewusst“, schreiben sie.
Abnutzungskriege würden gewonnen werden können, wenn Volkswirtschaften über ihre Industriezweige eine Massenmobilisierung der Streitkräfte ermöglichten, also die Bedürfnisse der Streitkräfte über diejenigen der Bevölkerung stellten, resümiert Vershinin; allerdings hatte Russland nie mit einem so langen Dahinsiechen seiner „Spezialoperation“ gerechnet, und möglicherweise sind nicht die Verluste allein das, was der russischen Regierung zu schaffen macht, sondern das immer deutlicher zutage tretende Missverhältnis zwischen Kosten und Ertrag für das russische Volk.
Russlands Resilienz: „Die russische Militärindustrie bleibt eine beeindruckende Maschine“
Dass Wladimir Putin den Nutzen des Krieges innenpolitisch plausibel darlegen konnte, galt noch Mitte Juli 2024 als sicher für etliche Beobachter; beispielsweise für Mathieu Boulègue: „Die russische Militärindustrie bleibt eine beeindruckende Maschine. Sie wird wahrscheinlich weiterhin in der Lage sein, sich durchzuwursteln und ‚ausreichend gute‘ Systeme zu produzieren, die noch immer eine erhebliche Bedrohung für die Ukraine, die Nato und ihre Verbündeten darstellen“, schrieb der Analyst des britischen Thinktanks Chatham House.
Boulègue hält weiter große Stücke auf die Fähigkeiten Russlands, überlegene oder zumindest fortschrittliche Rüstungstechnik zu produzieren – auch wenn der Krieg mittlerweile im vierten Jahr geführt wird und kein Ende in Sicht kommt. Boulègue zufolge bewegt sich Russland auf Augenhöhe mit der Nato insbesondere mit Abstandswaffen wie der Iskander-Rakete sowie asymetrischer Kriegsführung wie beispielsweise im digitalen Raum oder mittels Guerilla-Taktiken, die Russland noch lange nicht ausgereizt hätte. Panzer seien demnach kaum die entscheidende Waffengattung, um einen Krieg zu gewinnen, legt Boulègue nahe. Die aktuell gering erscheinenden Verluste mögen aber auch auf einen Wechsel der Taktik hindeuten.
Auch die von Russland aktuell offensiv demonstrierte Verhandlungsbereitschaft kann bedeuten, dass Russland auf dem Schlachtfeld kaum mehr an einen Sieg entsprechend der ursprünglichen Vorstellung glaubt; oder im Gegenteil, dass Russland Zeit braucht, entweder neue Panzer zu produzieren oder eine neue Strategie zu implementieren. Laut Bastian Giegerich werde Russland möglicherweise nicht über genügend Kampfpanzer für Offensivoperationen nach 2026 verfügen, obwohl der Generaldirektor und -Geschäftsführer des US-Thinktanks Institute for International and Strategic Studies (IISS) im Vorwort zur aktuellen Military Balance-Studie voraussagt, Russland würde daran festhalten, die Ukraine unterwerfen zu wollen.
Putins Plus: Durch Bundeskanzler Merz‘ Äußerung scheinen dem Raketenkrieg Tür und Tor geöffnet
Ihm zufolge werde Russland trotz aller wirtschaftlichen Anstrengungen die derzeitigen russischen Ausrüstungsverluste nicht durch die Modernisierung eingelagerter Fahrzeuge dauerhaft ausgleichen können, wie ihn das Magazin Newsweek zitiert. Klar zu erkennen sei allerdings, dass sich beide Kriegsparteien zunehmend verließen auf die Entwicklung unbemannter Luftfahrzeuge und den Einsatz von Einweg-Drohnen, um den Gegner tief hinter den Frontlinien zu treffen. Wie der deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) kürzlich geäußert hatte, würde auch die Reichweitenbeschränkung für Westwaffen in den Händen der Ukraine fallen – damit scheinen dem Raketenkrieg Tür und Tor geöffnet und der Ukraine-Krieg in eine neue Phase getreten zu sein.
Gleichzeitig könnte der Panzerkrieg vorerst der Geschichte angehören – jedenfalls vorerst. Daher mögen die bisherigen Verluste Russlands in der Ukraine beeindruckend und erschreckend zugleich sein, ähnliche Zahlen werden voraussichtlich nie mehr erreicht werden; weil der Ukraine-Krieg ein anderer ist als er hätte werden sollen, wie Alex Vershinin bereits vor einem Jahr vermutet hat: „Militärische Operationen in einem Abnutzungskonflikt unterscheiden sich stark von denen in einem Bewegungskrieg. Statt einer durch schnelle Manöver erzielten Entscheidungsschlacht konzentriert sich der Abnutzungskrieg auf die Vernichtung der feindlichen Streitkräfte und deren Fähigkeit zur Regeneration ihrer Kampfkraft bei gleichzeitiger Erhaltung der eigenen.“
Erschreckende Verluste: Fast die gesamte Panzerflotte, die der Kreml eingesetzt hatte, zerstört
Diese These stützend, berichtet der Kiyv Independent davon, dass die Statistiken von Open-Source-Quellen dafür sprächen, „dass fast die gesamte Panzerflotte, die der Kreml zu Beginn der groß angelegten Invasion eingesetzt hatte, zerstört worden war“ – der Eindruck sei sogar „eindeutig“, wie Autor Chris York schreibt. Auch über die Endlichkeit der russischen Ressourcen bestünde Klarheit, wie der Kiyv Independent auf Grundlage einer Analyse des im französischen Marseille ansässigen Thinktanks Institut Action Résilience berichtet.
Demnach hätte Russland eingangs des Ukraine-Krieges insgesamt 6.000 bis 7.000 russische Panzer aller Typen und Erhaltungszustände auf Lager gehabt, wie die Franzosen Ende 2023 veröffentlicht haben. Die Kapazitäten Russlands zum Neubau oder zur Wiederherstellung werden auf 100 bis 200 Stück pro Jahr taxiert; wobei Russland möglicherweise selbst optimistische Zahlen veröffentlicht und die Schätzungen aus dem Westen eher als spekulativ zu betrachten sind.
Nato alarmiert: Russland hat seine Kapazität zur Herstellung wichtiger Waffensysteme deutlich erhöht
Allerdings vertritt die westliche Wissenschaft Untergangsszenarien des Westens mit der gleichen Vehemenz wie andersherum: „Tatsächlich implodiert die russische Wirtschaft“, hat im Juli 2022 der Yale-Management-Professor Jeffrey A. Sonnenfeld im Magazin Foreign Policy behauptet. Ökonomen und Politologen aus Kiel sind im September 2024 zum genau gegenteiligen Schluss gelangt: Russlands Kampfkraft nehme ständig zu, haben Guntram Wolff und Ivan Kharitonov für das Institut für Weltwirtschaft (IFW) geschrieben:
„Die Produktionskapazität des Landes ist inzwischen so hoch, dass es in etwas mehr als einem halben Jahr das Äquivalent des gesamten Arsenals der Bundeswehr produzieren kann. Seit dem Angriff auf die Ukraine hat Russland seine Kapazität zur Herstellung wichtiger Waffensysteme deutlich erhöht – bei Langstrecken-Luftabwehrsystemen etwa um den Faktor zwei und bei Panzern um den Faktor drei.“