Obwohl ihre Mutter sie nicht mehr erkennt, erlebt Peggy die schöne Seite von Demenz
FOCUS online: Sie finden, dass zu negativ über das Thema Demenz berichtet wird. Daher haben Sie vor Jahren einen Blog gestartet: "Alzheimer und wir".
Peggy Elfmann: In der Tat vermisse ich in der allgemeinen Berichterstattung zum Thema mutmachende Einblicke. Der Blog war mir nach der Erkrankung meiner Mutter ein inneres Bedürfnis. Ich will die Krankheit nicht schönreden. Die Diagnose war auch für uns ein Schock. Aber sie war nicht das Ende, ganz im Gegenteil. Meine Mutter lebte 13 Jahre lang mit der Krankheit, bevor sie letztes Jahr gestorben ist.
Ein anderer, positiver Blick auf die Erkrankung hätte uns allen gerade zu Beginn geholfen. Es stimmt, dass Menschen mit Demenz Fähigkeiten und Fertigkeiten verlieren. Aber sie bleiben Mensch, behalten Erfahrungswissen und ihre Würde. Auch Neues kann durch die Krankheit hinzukommen. Das höre ich oft, wenn ich mit anderen Angehörigen spreche.
Was genau?
Elfmann: Da heißt es zum Beispiel: "Mein Papa war immer sehr streng. Es war schwer, an ihn heranzukommen. Auf einmal geht das. Ich sehe: Er hat auch weiche Seiten".
Haben Sie Ähnliches mit Ihrer Mutter erlebt?
Elfmann: Mama war immer sehr emotional. Auch hatten wir eine enge Bindung, das war nicht das Thema. Was sich geändert hat, war, dass meine Mama ihre Emotionen viel direkter und offener mitgeteilt hat. Manchmal lachte sie so laut, dass ich ganz überrascht war. Sie war immer fröhlich, aber dieses Lachen war so ehrlich und unverstellt, das kannte ich bis dahin nicht.
Sie tanzte mit meiner kleinen Tochter und schäkerte mit meinem Baby. Da entstand eine wunderbare Nähe, die sicher auch mit ihrer Art zu fühlen zu tun hatte. Wenn meine Kinder lustige Sachen sagte oder machten, ist Mama voll mit eingestiegen. Ihre Emotionen waren unmittelbar da. Diese Seite der Erkrankung fand ich überraschend. Und es hat mir immer wieder gezeigt, dass Mama ja auch in der Demenz viele schöne Momente erlebt.
Sprechen wir jetzt von einer frühen Phase der Erkrankung?
Elfmann: Das mit den Emotionen und dem lauten Lachen gilt genauso für die Zeit, in der die Demenz schon fortgeschritten war. Ja, Mama war jetzt oft müde, saß auf dem Sofa und hatte die Augen zu. Man neigt dann dazu zu denken, der oder die an Demenz Erkrankte ist ganz in seiner Welt.
Aber das stimmt nicht. Mama war bei uns, mittendrin. Eine entscheidende Erkenntnis, finde ich. Denn der Umgang mit dem Gegenüber wird so bewusster.
Im letzten Jahr haben Sie ein Buch veröffentlicht: "Meine Eltern werden alt".
Elfmann: Das Buch ist auch entstanden, weil ich dem gefühlt sehr einseitigen Blick auf das Pflegen und Demenz etwas entgegensetzen wollte. Ich wollte das "sowohl als auch" zeigen und Anregungen geben, wie man sich dem Thema Pflege frühzeitig und gemeinsam nähern kann.
Es gibt so viel mehr als die traurigen, anstrengenden Momente. Ein Triggerwort ist für mich zum Beispiel dieses "Leiden". Also wenn es heißt, jemand "leidet" an Demenz.
Wie würden Sie das formulieren?
Elfmann: Ich würde sagen, jemand hat Demenz oder lebt mit einer Demenz. Meine Mutter hat bestimmt nicht 13 Jahre lang gelitten! Ich empfinde solche Formulierungen als abwertend, stigmatisierend.
Genauso, wenn von "der oder dem Dementen" gesprochen wird. Eine Demenzerkrankung ist nur ein Merkmal einer Person. Menschen mit Demenz haben auch andere Rollen und Eigenschaften. Es ist richtig, dass meine Mutter kognitiv abgebaut hat und die Diagnose mit 55 war gleichzeitig das Ende ihrer Berufstätigkeit. Meine Mutter war Gymnasiallehrerin, das hätte nicht mehr funktioniert.
Richtig, ist aber auch: Meine Mutter war noch lange körperlich total fit. Nach der Diagnose trainierte sie wieder regelmäßig und nahm sogar an kleinen Laufwettkämpfen teil.
Ihre Mutter war Sportlerin?
Elfmann: Ja, seit ihrer Kindheit hat sie Leichtathletik gemacht, wurde später Sportlehrerin. Als Erwachsene ist sie Halbmarathons gelaufen. Als sie nicht mehr berufstätig war, lief sie wieder häufiger.
Ich erinnere mich, dass sie mir von einem Stundenlauf erzählte und ein wenig unzufrieden war, weil ihre Zeit nicht so gut gewesen war. Im ersten Moment fand ich das merkwürdig, die Laufzeiten zu betrauern, wenn man Demenz hat – wo doch so viel mehr zu betrauern war.
Aber je mehr ich darüber nachdachte, umso besser konnte ich sie verstehen. Ich wusste, dass das Laufen für meine Mama immer wichtig gewesen war, dass ihr das in ihrer Jugend Freude, Erfolg und Wertschätzung gegeben hatte. Es war schön und wichtig, dass auch im Alltag nicht immer die Krankheit im Vordergrund stand, sondern so etwas wie Normalität. Mein Papa begleitete Mama, wenn sie trainierte, meist auf dem Fahrrad.
Mit ebenfalls Mitte 50?
Elfmann: Nein, Papa ist älter, zum Zeitpunkt von Mamas Diagnose war er schon im Ruhestand. Auch durch das regelmäßige Bewegungsprogramm haben die Tage meiner Eltern eine neue und hilfreiche Struktur bekommen. Mama und Papa haben fast täglich einen langen Spaziergang über die Dörfer gemacht. Die Bewegung wurde zu einer festen Routine, die uns alle gestützt hat. Auch dann, als Mama aufgehört hat, zu sprechen.
Wann war das?
Elfmann: Nach etwa sechs Jahren. Das war schmerzhaft. Womit wir wieder beim Einerseits und Andererseits wären. Ja, da war Traurigkeit. Aber da war auch noch Freude und Nähe – zum Beispiel, wenn ich mit Mama eine Runde um den Dorfteich gegangen bin. Auch ohne Sprache kann man einander schöne Sachen zeigen, intensive Momente zusammen erleben.
Mama hat gerne Blätter oder Blüten abgezupft und mit nach Hause genommen. Auch der Garten hat ihr Kraft gegeben. Sie war gerne dort aktiv, liebte es, in der Erde zu buddeln, Geranien zu pflanzen, Laub zu harken, solche Dinge …
Aus Gesprächen mit anderen Angehörigen weiß ich, dass solche Interessen oft lange bestehen bleiben – wenn sie gepflegt und unterstützt werden. Umso wichtiger finde ich den Blickwechsel. Statt immer nur darauf zu schauen, was nicht mehr geht, können wir das Positive herholen und gestalten.
Ist das aus Ihrer Sicht ein Stück weit Übungssache?
Elfmann: Ich glaube schon. Und es ist eine Frage der Haltung. Vieles, was wir über Demenz hören und lesen, klingt nach Kämpfen. Aber diesen Kampf kann man nicht gewinnen. Es nützt nichts, festhalten zu wollen. Die Veränderungen lassen sich nicht aufhalten.
Nun stellt sich die Frage, was wir in den Mittelpunkt stellen: den Verlust, den Schmerz, das Drama? Oder die Ressourcen?
In Ihrem Buch geben Sie "50 Ideen für ein gutes Miteinander". Sie nennen diese Ideen eine "kleine Schatztruhe".
Elfmann: Natürlich funktioniert nicht jede Idee für jeden und es funktioniert auch nicht alles in jeder Phase. Das sollen wirklich nur Anregungen sein. Menschen sind verschieden, Krankheitsverläufe und Pflege sind das auch. Doch ich glaube, mir hätte so etwas wie dieses Buch damals geholfen.
Eine der 50 Ideen lautet "Veranstaltet einen Spielenachmittag – mit den alten Kinderspielen".
Elfmann: Anlass für diesen Tipp war ein Frühlingstag bei meinen Eltern. Zugegeben, es war anstrengend, denn meine Mama war immerzu in Bewegung und mein ursprünglicher Plan, gemeinsam ein Brettspiel zu machen, hätte nicht funktioniert.
Dann waren wir im Keller, und mein Blick fiel auf die bunten Boccia-Kugeln. Wir packten das Spiel im Garten aus und legten los. Meine kleine Tochter war voller Eifer dabei und auch Mama hat sich riesig gefreut. Der Moment war für mich so besonders, weil wir einfach fröhlich spielten. Die Krankheit war mit all den sorgenvollen Gedanken ganz weit weg.
Außerdem habe ich gemerkt, dass Mama noch viel kann. Gespräche waren zu diesem Zeitpunkt längst schwierig geworden, aber sie konnte sich gut bewegen. Sie warf die Bälle mit Geschick und Freude. Spielen trainiert nicht nur den Körper, sondern tut auch der Psyche gut.
Sie sagten gerade "Ich merkte, dass Mama noch viel kann". Die größte Angst vieler Angehörigen ist die, eines Tages nicht mehr erkannt zu werden …
Elfmann: Das war bei mir auch so. Irgendwann wird sie nicht mehr wissen, wer ich bin – das trieb mich anfangs um. Und natürlich hat sich in dieser Hinsicht im Laufe der Zeit etwas verändert. Mama fing an, meinen Namen nicht mehr zu sagen. Aber wenn ich kam, strahlte sie übers ganze Gesicht. Da war so eine Freude in ihren Augen.
Auch hier wieder: Man kann sowas von zwei Seiten sehen. Ehrlich gesagt war mir irgendwann gar nicht mehr so wichtig, ob sie weiß, wer ich bin.
Sondern?
Elfmann: Dass wir diese schönen, nahen Momente hatten. Ich bin sehr dankbar über den Weg, den wir inmitten all dieser von Pathos und Klischees geprägten Berichte über Demenz gefunden haben. Wenn immer nur der Verlust im Bewusstsein ist, hat die Lebensfreude kaum Platz. Und das hatte meine Mutter, Lebensfreude! Das zeigte sich schon bei den Mahlzeiten …
Was meinen Sie?
Elfmann: Meine Mutter hat in der Demenz viel Genuss am Essen gezeigt. Eis zum Beispiel. Das ist auch so etwas, was ich nie vergessen werde: wie wir mit den Kindern im Sommer auf der Terrasse bei einem schönen Eis saßen. Zu sehen, was für eine Freude sie hat. Und das hat uns allen auch gut getan.
Als Mama gestorben ist, haben viele gesagt: 'Jetzt ist sie erlöst'. Für mich hat das nicht gepasst. Weil es negiert, dass die Zeit der Krankheit auch eine schöne Zeit war und wir ja einen großen Verlust erlebt haben.