„Kuba-Moment“: Die Antwort auf Putins Gleitbomben birgt Gefahr einer Eskalation
Gleitbomben sind Kriegsverbrechen und werfen Fragen auf – Fachleute wissen wohl auch keine Antworten mehr, wie Russlands Terror zu stoppen sein könnte.
Charkiw – „Test an der Zivilbevölkerung“ hat Othmara Glas geschrieben über das Grauen in Charkiw– ukrainische Behörden sollen damit den ersten Einschlag einer Gleitbombe in der zweitgrößten Stadt der Ukraine kommentiert haben, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtet. Das war Ende März, und der Ukraine-Krieg ging offenbar in eine neue Phase, in der Russland scheinbar den Terror gegen die Zivilbevölkerung verschärft – und gleichzeitig die Kosten herunterschraubt.
„Gleitbomben werden gebaut, indem alten sowjetischen Bomben ausklappbare Flügel und Satellitennavigation hinzugefügt werden. Sie sind billig, aber zerstörerisch“, schreibt die BBC. Parallel zum russischen Vormarsch auf die Stadt von der russischen Grenze aus sollen inzwischen mehr als 200 dieser Bomben eingesetzt worden sein, „um die nordukrainische Stadt Wowtschansk unter Beschuss zu nehmen“, wie die BBC weiter berichtet. Grund genug für den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, den Westen zu höherem Tempo aufzufordern – seine Forderung dreht sich weiter um Flugabwehr und Kampfflugzeuge.
Der ukrainische Präsident wies in seiner täglichen Video-Ansprache wieder einmal auf die Dringlichkeit von Flugabwehrwaffen hin. Die Ukraine brauche am dringendsten weitere Flugabwehrsysteme und westliche Kampfjets. „Leider fehlt es der freien Welt in diesen beiden Fragen an Schnelligkeit“, sagte er laut Deutscher Presse-Agentur. Aufgrund der Luftüberlegenheit könne Russland mit Gleitbomben Städte und Verteidigungsstellungen der Ukrainer vernichten. Aktiv nutzten die Russen seinen Angaben zufolge die zerstörerische Taktik an den Frontabschnitten bei Charkiw sowie im Gebiet Donezk in Richtung Tschassiw Jar und Pokrowsk.
„Die meisten Gleitbomben sind umgerüstete ,dumme‘ Freifallbomben. Sie bekommen Stummelflügel und ein einfaches Navigationssystem verpasst und werden unter einem Jet montiert. Der klinkt sie weit entfernt von der Front aus, daraufhin gleitet die Bombe ins Ziel und trifft präzise.“
„Den strategischen Bombenkrieg gegen Wehrlose, gegen Zivilisten würde ich mit dem Begriff des Kriegsterrors belegen“, urteilt Wolfgang Sofsky. Den Soziologen hatte das Magazin Geo Epoche gefragt, ob der alliierte Bombenkrieg im Zweiten Weltkrieg ein Kriegsverbrechen war. Sofsky ist bei gezielten Angriffen gegen Zivilpersonen kompromisslos: „Er führte zu Massakern, zu Massakern aus der Luft. Das waren Verbrechen innerhalb einer eigentlich legitimen Kriegsführung der Alliierten.“ Die Rechtmäßigkeit der Kriegführung der Russen gegenüber dem ukrainischen Militär ist so wenig gegeben wie gegen die Zivilbevölkerung des russischen Nachbarlandes. Der gezielte Terror gegen Zivilisten bleibt ein Verbrechen mit Ansage.
Putins Propagandisten: „Ukrainertum ist eine künstliche antirussische Konstruktion“
Der Historiker und Osteuropa-Experte Timothy Snyder spricht sogar von einer „Anleitung zum Völkermord“, über das, was der russische Publizist Timofej Sergejzew zu Beginn des Krieges über die Nachrichtenagentur Ria Nowosty verbreitet und was in ähnlichem Wortlaut der ehemalige russische Präsident Dimitri Medwedew wiederholt hatte. Laut den Blättern für deutsche und internationale Politik habe der Propagandist Sergejzew geäußert: „Das Ukrainertum ist eine künstliche antirussische Konstruktion ohne eigenen zivilisatorischen Inhalt, ein untergeordnetes Element einer fremden und entfremdeten Zivilisation.“
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Gleitbomben scheinen also Russlands Weg zur Vernichtung ihrer Nachbarn zu bahnen: „Es gibt keine Worte, um die Verwüstung zu beschreiben. Man kommt dort an und sieht Menschen, die verstümmelt am Boden liegen“, sagt Oleksii Charkiwski, laut dem kosovarischen Magazin Koha. Der Polizeichef von Wowtschansk ist Augenzeuge der Auswirkungen geworden. Russland macht seine Waffen intelligent – wie Gernot Kramper im Stern erläutert hat: „Die meisten Gleitbomben sind umgerüstete ‚dumme‘ Freifallbomben. Sie bekommen Stummelflügel und ein einfaches Navigationssystem verpasst und werden unter einem Jet montiert. Der klinkt sie weit entfernt von der Front aus, daraufhin gleitet die Bombe ins Ziel und trifft präzise.“ Die Gewichte der Sprengkörper sollen von anfänglichen 250 Kilogramm auf 500 gewachsen sein und jetzt bei 1.500 beziehungsweise 3.500 Kilogramm liegen.
Putins konventionelle Potenz: Hunderttausende Granaten aus der Sowjetzeit
50 bis 70 Kilometer sollen die Gleitbomben zurücklegen können, die einfache Umrüstung vorhanden Materials an Munition senkt die Kosten. „Die Waffen trugen maßgeblich zum jüngsten Fall der Stadt Awdijiwka bei, bei dem Gebäude und Befestigungen abgerissen wurden. Russland hat in diesem Jahr bereits 3500 Gleitbomben abgeworfen, und diese Sprengstoffflut wird wahrscheinlich anhalten und sich sogar noch ausweiten. Es ist eine Besorgnis erregende Entwicklung“, hat das Center for European Policy Analysis (CEPA) Anfang April geschrieben. „Bei dem Sprengstoff handelt es sich im Wesentlichen um eine konventionelle Freifall-Eisenbombe, von der Russland Hunderttausende aus der Sowjetzeit lagert“, sagt Justin Bronk.
Diese Bomben im Anflug zu zerstören, sei illusorisch, so der Spezialist für Luftwaffe und Militärtechnologie am Royal United Services Institute (Rusi). Ohnehin seien die relativ kleinen Objekte schwer zu orten und zu vernichten. Wladimir Putin könne deshalb Einrichtungen so lange bombardieren lassen, bis diese in Schutt und Asche lägen. Ihm zufolge helfe einzig und allein die Zerstörung der Träger, also der Flugzeuge, die sich im russischen Luftraum jenseits der Grenze den ukrainischen Stellungen näherten. Allerdings stünde dieser möglichen Taktik der Ukraine das westliche Veto entgegen – besonders das Veto der USA.
Chance der Ukraine: Flugzeuge jenseits der Grenze zerstören – Veto der USA
„Die russischen Maschinen können sich der Front nähern, weil dort zu wenig Flugabwehr wie Iris-T SLM steht. Deutschland hat bereits vier Stück geliefert und neun weitere zugesagt“, schreibt aktuell Hauke Friedrichs für Zeit Online. Dennoch bleiben diese hochwirksamen Systeme zahnlos, wenn ihnen die Gegner fehlen. Immer mehr bundesdeutsche Politiker votieren für einen Aufmarsch von Patriot-Systemen beispielsweise in Polen, um von dort aus – von Nato-Territorium aus – den ukrainischen Luftraum mitzuverteidigen. „Besorgniserregend“, sagt Wolfgang Richter, sei deshalb, „dass unterhalb der Ebene einer direkten Kriegsbeteiligung Sorglosigkeit und Risikobereitschaft auf beiden Seiten wachsen“.
Für den ehemaligen Bundeswehr-Oberst gelte dies „für die russischen Drohneneinsätze im Grenzgebiet zu Nato-Ländern ebenso wie für Kiews Angriffe mit Langstreckenwaffen gegen Ziele in Russland und auf der Krim, zumal sie mit westlichen Systemen oder zumindest westlicher Aufklärungsunterstützung durchgeführt werden“, wie er für die Friedrich-Ebert-Stiftung schreibt. Ihm zufolge hielte die Abschreckung Russland noch halbwegs im Zaume, „doch könnten sich die Risikokalküle der russischen Führung verändern“, würde sie ein strategisches Missverhältnis gegenüber den USA wahrzunehmen beginnen.
Der ehemalige leitende Militärberater der Vertretungen in der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) meint, dass russische Analysten einen „Kuba-Moment“ heraufziehen sehen. Auch wenn dem so wäre, bleibt die ukrainische „Zivilgesellschaft im Fadenkreuz“, wie die Blätter für deutsche unter internationale Politik zuspitzen. „Einen sauberen Krieg gibt es nicht. Immer leiden Zivilisten, die unschuldig in die Frontlinie geraten. Wenn aber Angriffe auf Zivilisten zur Kriegstaktik erhoben werden, dann muss mit lauter Stimme an das Völkerstrafrecht erinnert werden. Dann handelt es sich auch nicht mehr nur um einzelne Verfehlungen gegen die Regeln des humanitären Völkerrechts, sondern um Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, konstatiert deshalb Christoph Safferling in der Legal Tribune Online.
Eine einfache Antwort auf die derzeitige Situation rund um Charkiw scheint außer Sicht. Einen Trost aber hätte CEPA-Autor Michael Peck anzubieten: „Es ist einfach so, dass Russlands Wunderwaffen bis jetzt noch keinen entscheidenden Vorteil gebracht haben. Bomben, die tiefe Krater hinterlassen, sind nützlich, aber letztendlich müssen Selbstmordbataillone aus Sträflingen auf Bewährung und mürrische Wehrpflichtige dort hineingehen.“ (Karsten Hinzmann)
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