Vor 80 Jahren hat er Schreckliches beobachtet: US-Zeitzeuge Norman Weber erneut zu Besuch in Geretsried

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Hier spielte sich alles ab: Norman Weber am Fenster seines ehemaligen Kinderzimmers. Es zeigte direkt zum Lager Buchberg. © Sabine Hermsdorf-hiss

Der Amerikaner Norman Weber kehrt nach 80 Jahren in sein ehemaliges Kinderzimmer in Geretsried zurück. Er erinnert sich an die Kriegsereignisse, die er als Kind miterlebt hat.

Geretsried – „Das ist das Fenster“, sagt Norman Weber, während er seinen Blick über die B11 und Bäume schweifen lässt. Der 89-Jährige steht in einem der Kinderzimmer des ehemaligen Ingenieurshauses 882, das er sich damals mit seinem Cousin Ekkehard geteilt hat. Erinnerungen werden wach. „Hier stand mein Bett, und dort hat mein Vetter geschlafen“, erzählt Weber. Und auch an das, was er vor acht Jahrzehnten von jenem Fenster aus beobachtet hat, kann sich der Amerikaner sehr gut erinnern.

Weber musste als Neunjähriger mitansehen, wie Ende April 1945 auf der anderen Straßenseite Zwangsarbeiter ihren Lagerleiter erschlugen. Auch den Todesmarsch verfolgte er durch das Fenster. Seine Familie erlebte damals zahlreiche Bombenangriffe. Über 60 Mal mussten Erwachsene und Kinder im Schutzraum im Untergeschoss des Hauses oder im Bunker jenseits der heutigen B11 Zuflucht suchen, weil die Sirenen heulten. So auch am 9. April 1945, als die Alliierten über Geretsried 2100 Bomben abwarfen. 

Geretsried - Norman Weber besucht Elke Tschakert
Ein Geschenk für die Gastgeberin: Norman Weber (re.) überreicht Dr. Elke Tschakert (vorne li.) ein Buch über die Geschichte des ehemaligen Ingenieurshauses. © Sabine Hermsdorf-hiss

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Die Erlebnisse berühren ihn auch 80 Jahre später noch

Es scheint, dass Weber die Erlebnisse 80 Jahre später immer noch sehr berühren. Für ihn, seine Frau Sandy und ein befreundetes Ehepaar aus den Staaten ist es der zweite Besuch Geretsrieds innerhalb von zwei Jahren. Den Weg geebnet hat Friedrich Schumacher vom Arbeitskreis Historisches Geretsried. Der pensionierte Schulleiter forscht seit Jahren über die Rüstungszeit und ist Autor einiger Geretsrieder Hefte. Er konnte für Aufklärung sorgen. Denn lange Zeit habe er nicht gewusst, was er da genau gesehen hat und was es mit den Rüstungsfabriken auf sich hatte, gesteht Weber. „Ich habe gedacht, dass das alles im Untergrund stattgefunden hat.“ Der Amerikaner hatte viele Fragen, und Schumacher, der mit Weber vor etwa fünf Jahren Kontakt aufgenommen hatte, konnte sie beantworten. Der 89-Jährige spricht von 750 E-Mails, die er nach Deutschland schickte, und von genau so vielen Antworten, die er erhielt.

Die beiden Männer verbindet mittlerweile eine tiefe Freundschaft. Ein besonderes Verhältnis hat Weber auch zu Dr. Elke Tschakert, die das ehemalige Ingenieurshaus von ihrer Mutter geerbt hat. Sie kam dort zur Welt und wuchs dort auf. Zusammen mit ihrem Mann hieß sie die Delegation aus Amerika herzlich willkommen. Beim ersten Besuch war das Haus, das die Tschakerts aufwendig sanieren, noch eine komplette Baustelle. Jetzt fehlt nicht mehr viel, dann kann das Ehepaar einziehen.

Als Präsent ein Buch über das historische Haus

Im Esszimmer gibt es Kaffee und Kuchen. Rhabarber-Streuselkuchen, Bienenstich und Erdbeer-Tiramisu: Die Tafel ist reich gedeckt. Als Dankeschön für die Einladung überreicht Weber der Gastgeberin ein Buch mit der Geschichte des ehemaligen Ingenieurshauses, die 1942 begann. „Du musst es jetzt fertigstellen“, sagt Weber zu Tschakert. Gerührt bedankt sich die Gastgeberin für das besondere Geschenk.

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Vortrag vor 70 Zuhörern in den Ratsstuben

Abends in den Ratsstuben spricht Weber in fließendem Deutsch vor etwa 70 interessierten Zuhörern über seine Kindheit und wie er von New York aus über München, Berlin, Neuzelle und Polen mit seiner Mutter und seiner kleinen Schwester in das Ingenieurshaus 882 nach Oberbayern kam. Sein Onkel Jost Lindner war damals als technischer Leiter beim Munitionswerk Dynamit AG (DAG) beschäftigt. „Meine Mutter wusste nicht, wohin“, sagt Weber. „Da ist ihr ihre Schwester eingefallen, die in Buchberg lebte.“ Das Publikum hört dem wortgewandten 89-Jährigen gebannt zu. Auch Bürgermeister Michael Müller ist unter den Zuhörern. „Es ist ein Geschenk, wenn jemand den Mut hat, über das Erlebte zu sprechen“, sagte der Rathauschef. „Und es ist eine Verantwortung, das Gehörte nicht zu vergessen.“ Er dankte Weber für dessen Beitrag zum Gedächtnis der Stadt.

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