Nicht ohne Deutschland
Im Gegensatz zu Nicolas Sarkozy und Francois Hollande, die zu Beginn ihrer Amtszeit von einer Alternative zu Deutschland geträumt hatten, setzte Emmanuel Macron von Anfang an auf den Nachbarn. Sein Ziel: den deutsch-französischen Bilateralismus als strukturierendes Element europäischer Politik wiederzubeleben. Bereits im Wahlkampf hatte Macron den Boden hierfür bereitet und sich zweimal nach Deutschland begeben, um die Weichen hierfür zu stellen.
Eine zentrale Rolle spielte dabei die Rede, die der Kandidat Macron am 10. Januar 2017 an der Humboldt-Universität in Berlin hielt. Diese Rede ist insofern bemerkenswert, als sie deutlich macht, was Emmanuel Macron dem Schäuble-Lamers Papier (1. September 1994) zu „verdanken“ hat, nämlich der Idee einer deutsch-französischen Avantgarde – eines „Kerns des Kerns“ – als Grundvoraussetzung für ein souveränes Europa.
In seinem ersten Interview als Präsident knüpfte Emmanuel Macron daran an und bekräftigte, eine „Allianz des Vertrauens“ mit Deutschland aufbauen zu wollen. In den folgenden Monaten hielt er zahlreiche Reden (Athen, Frankfurt, Paris, Aachen, Straßburg), in denen er Deutschland Vorschläge unterbreitete, die bekanntlich nicht aufgegriffen wurden.
Innenpolitisch setzte Macron eine Reihe tiefgreifender Reformen durch, um Frankreichs Wettbewerbsfähigkeit zu steigern und die Staatsfinanzen zu sanieren. Diese Reformen brachten ihm zwar den Zorn der Opposition ein und trieben das Land mitunter an den Rand der Nervenkrise. Sie begründeten aber gleichzeitig („en même temps“) eine Dynamik, die es Frankreich erlaubte, seine Glaubwürdigkeit in Europa wiederherzustellen. Deutschland hatte in den Jahren zuvor wiederholt auf den Reformbedarf in Frankreich hingewiesen und diesen zur Voraussetzung für weitere Integrationsschritte auf EU-Ebene gemacht.
Über Landry Charrier
Landry Charrier ist Mitglied der CNRS-Forschungseinheit SIRICE (Sorbonne, Paris), Associate Fellow am Global Governance Institute (Brüssel) sowie am Center for Advanced Security, Strategic and Integration Studies (Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn). Seine Schwerpunkte sind die deutsch-französischen Beziehungen im globalen Kontext sowie Frankreichs Außen- und Sicherheitspolitik. Er ist Ko-Produzent des Frankreich-Podcasts Franko-viel und seit März 2023 Redaktionsleiter der deutsch-französischen Zeitschrift dokdoc.
Keine Kooperation ohne „fruchtbare Konfrontation“
Nach zwei Jahren brach eine neue Phase an. Aus Frust und Ärger über den Nachbarn setzte Emmanuel Macron fortan auf eine andere Strategie. Anstatt weiterhin „frontal“ auf Deutschland zuzugehen, versuchte er, es über Umwege für seine Agenda zu gewinnen: Er bildete Ad-hoc-Koalitionen, um so den Nachbarn unter Zugzwang zu setzen. Der EU-Gipfel im rumänischen Sibiu (Mai 2019) bot ihm erstmals Gelegenheit, die Methode zu erproben: Im Vorfeld des Treffens hatte Macron eine Allianz aus acht Ländern geschmiedet, um sein Ziel – dass in EU-Haushalten mindestens 25 Prozent der Mittel dem Kampf gegen den Klimawandel gewidmet werden – durchzusetzen. Deutschland, das einen anderen Weg verfolgen wollte, war anfangs nicht dabei. Doch nach wenigen Tagen sah es sich gezwungen, sich der von Frankreich angeführten Koalition anzuschließen – der Druck war zu groß geworden.
In diesem Zeitraum setzte Macron zudem verstärkt auf „Alleingänge“, wie etwa im August 2019, als er vor der Botschafterkonferenz in Paris eine breit angelegte „Russland-Offensive“ ankündigte. Rückblickend ist klar: Macrons Initiativen haben wenig bewirkt und Frankreich nicht selten in die „strategische Einsamkeit“ geführt (Michel Duclos). Vor diesem Hintergrund waren manche Kritiken, die Macron für seine Europapolitik in Deutschland geerntet hat, sicherlich nicht unbegründet. Dabei darf nicht aus dem Blick geraten, dass die „Alleingänge“ des Präsidenten nicht zuletzt aus dem außenpolitischen Vakuum entstanden sind, das die Bundesregierung durch ihre zurückhaltende Haltung mitverursacht hatte.
Verpasste Chancen
Der deutsch-französische Quantensprung in der Corona-Krise (den Angela Merkel in ihren Erinnerungen nur am Rande thematisiert) war letztlich nur „ein Intermezzo“. Viele hatten damals auf eine nachhaltige deutsch-französische Dynamik gehofft. Diese Erwartungen wurden jedoch rasch enttäuscht. Der Krieg gegen die Ukraine, dessen Folgen und die Notwendigkeit, gemeinsam darauf zu reagieren, ließen die Bruchlinien, die das bilaterale Verhältnis schon immer geprägt hatten, wieder hervortreten. Die Verschiebung des Deutsch-Französischen Ministerrats im Oktober 2022 markierte in diesem Zusammenhang den Höhepunkt eines Machtkampfes, der in beiden Ländern hohe Wellen schlug. „Rien ne va plus“, schrieb Sylvie Kaufmann in Le Monde, während Jacques Attali, ehemaliger Berater von François Mitterrand, in seinem Blog warnte: Ein Krieg zwischen Deutschland und Frankreich sei wieder denkbar.
Die Jahre 2022-2024 werden in die Geschichte als die Zeit der verpassten Chancen eingehen. In vielen Bereichen, aber an erster Stelle in der Sicherheitspolitik. Im Rückblick wird dies wahrscheinlich als das schwerwiegendste Versäumnis von Bundeskanzler Scholz erkannt werden. Der Krieg gegen die Ukraine hätte ihn europäischer machen sollen; er hat ihn transatlantischer werden lassen. Der umtriebige Präsident Macron hat mit seinen vielen (teils unkoordinierten) Vorschlägen Deutschland zwar nicht selten vor den Kopf gestoßen und ihm so eine Reaktion nicht leicht gemacht. Eins wird man ihm jedoch nicht zum Vorwurf machen können, nämlich dass er nicht zu dem gestanden hat, was er 2016 in seinem Buch mit dem programmatischen Titel „Revolution“ versprochen hatte: „Wir sind weniger Opfer unserer Feinde als unserer eigenen Tatenlosigkeit“.
Der Kontrast zu Olaf Scholz könnte kaum größer sein. Die SPD ist 2021 an die Macht gekommen, mit dem Anspruch, „sich nicht wegzuducken“, „andere einzusammeln“ und einen „kooperativen“ und „klugen“ Führungsstil zu entwickeln (Lars Klingbeil). Mit seiner Politik der verschränkten Arme hat Scholz die Divergenzen zwischen Deutschland und Frankreich nicht nur vertieft, sondern auch zementiert und so zur Entfremdung beigetragen – und das mitten in der Krise der europäischen Sicherheit, die durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine ausgelöst wurde.
Ob unter einem Bundeskanzler Merz alles besser wird? Damit rechnet man in Paris sicherlich nicht. In seiner Rede an der Bundesakademie für Sicherheitspolitik am 4. Dezember 2024 hat Merz beim Thema Staatsschulden und Mercosur klare Kante gezeigt: „Mercosur (…) „darf nicht an Frankreich scheitern“. Das wird Macron genau registriert haben. Aber die Signale des Einvernehmens, die er in den vergangenen Wochen nach Paris gesendet hat, lassen aufhorchen. Merz weiß, dass Frankreich „ein schwieriger Partner“ ist, er weiß aber auch, dass sein Erfolg als Bundeskanzler (auch) von seinem Verhältnis zu Paris abhängen wird. Macron, der 2017 bei der Umsetzung seiner Agenda auf eine „Allianz des Vertrauens“ mit Deutschland gesetzt hatte, musste es am eigenen Leib spüren.
Was nun?
Die Geschichte der europäischen Integration zeigt, dass die großen Entscheidungen über die Zukunft der Europäischen Union Führung erfordern. Sie wurde in den meisten Fällen von Deutschland und Frankreich ausgeübt. Doch jedoch fehlt es ihnen sowohl an Ressourcen, um in einer Welt voller Großmachtambitionen allein ausreichende Hebelkraft zu entfalten. Die Logik, die Wolfgang Schäuble und Karl Lamers in ihrem berühmten Papier zur Zukunft Europas 1994 gepriesen hatten, scheint sich, überholt zu haben. Statt eines „Kerns des Kerns“ bedarf es nunmehr einer „Big-Europe-Initiative“ mit Polen, Deutschland, Frankreich und Großbritannien als Führungsnationen: Polen als Frontstaat und starker Sicherheitsgarant an der Nato-Ostflanke; Frankreich und Großbritannien als Nuklearmächte und ständige Mitglieder im UN-Sicherheitsrat. Deutschland als wichtigste Wirtschaftsmacht Europas. Allein auf der Grundlage eines von ihnen erarbeiteten Kompromisses wird es möglich sein, breitangelegte Konzepte der Handlungsfähigkeit zu erstellen und andere dafür zu gewinnen. Die Bedingungen hierfür sind gut:
- Das Trinity House Agreement vom 23. Oktober über den weiteren Ausbau der deutsch-britischen Zusammenarbeit in Rüstung und Verteidigung schließt das Dreieck mit Frankreich;
- Seit dem Abschluss des Lancaster House Treaty (2010) unterhalten Paris und London enge Beziehungen im Militär- bzw. Nuklearbereich;
- Der Aachener Vertrag enthält seinerseits eine Beistandsklausel, die in vielerlei Hinsicht an das „Versprechen“ erinnert, das Frankreich und Großbritannien sich in der Erklärung von Saint-Malo (4. Dezember 1998) gegeben und in der Joint Leaders' Declaration vom 10. März 2023 bekräftigt haben.
Somit sind die drei Länder nun bilateral miteinander verbunden. Der für Juni 2025 geplante polnisch-französische Vertrag von Nancy wird das Konstrukt um einen weiteren Partner ergänzen. Bliebe dann Deutschland, mit welchem Polen ein nach wie vor schwieriges Verhältnis unterhält. Ob sich dies unter einem Kanzler Merz ändern wird, bleibt abzuwarten. Merz’ Vorschlag, einen Freundschaftsvertrag mit Polen zu unterzeichnen, wurde jedenfalls in Warschau positiv aufgenommen. Dort sind die Hoffnungen, dass es nach der Bildung der neuen Bundesregierung zu einem qualitativen Sprung in den bilateralen Beziehungen – ähnlich dem zwischen Deutschland und Frankreich, wie Botschafter Tombiński neulich betonte – kommt, besonders groß. Für Donald Tusk und seine europafreundliche Koalition dürfte auch einiges auf dem Spiel stehen.
In den vergangenen Monaten wurde immer wieder behauptet, der Krieg in der Ukraine verändere das geopolitische Gleichgewicht Europas. Die Zukunft Europas liege in den Händen anderer Länder. Das ist richtig, gleichzeitig aber zu kurz gegriffen. Denn die Herausforderungen, denen die EU gegenübersteht, lassen sich nicht auf einen Konfliktherd reduzieren, nämlich den Krieg gegen die Ukraine. Sie sind globaler Natur. Deutschland und Frankreich sind die einzigen EU-Mitgliedstaaten, die weltpolitikfähig sind und in dieser „Eigenschaft“ richtungsweisend sein können. Am Ende wird es also wieder einmal auf sie ankommen, auf ihre Kooperationswilligkeit sowie ihre Kooperationsfähigkeit.
Dieser Content stammt aus unserem EXPERTS Circle. Unsere Experts verfügen über hohes Fachwissen in ihrem Bereich. Sie sind nicht Teil der Redaktion.