Kursk-Offensive: Wendepunkt im Ukraine-Krieg oder militärischer Flop?

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Strohfeuer oder Vorbereitung des Gegenangriffs: Die russische Armee versucht seit fast zwei Wochen, den ukrainischen Angriff im Gebiete Kursk zurückzuschlagen. Jetzt ist eine weitere Brücke verlorengegangen und Russland bekommt Schwierigkeiten mit dem Nachschub. © -/Russian Defense Ministry Press Service /dpa

Analysten vermissen den militärischen Sinn der Kursk-Offensive. Russland lässt die Region noch links liegen und kämpft sich in der Ostukraine voran.

Karyzh – „Der Krieg in der Region Kursk weckt bei Männern im kampffähigen Alter gemischte Gefühle“, schreibt Benjamin Quénelle – die ausgesetzten Kopfgelder erreichten Rekordsummen, wie der Moskau-Korrespondent der französischen Zeitung Le Monde schreibt. Die Ukraine baut gegenüber Wladimir Putin stärkeren Druck auf; jetzt haben die Verteidiger im Ukraine-Krieg kurz nacheinander eine dritte Brücke in der Region Kursk zerstört. Russland muss deshalb seine Truppen dort verstärken – was wohl vorerst ausbleiben wird. Während sich die Ukraine dort festbeißt, walzt die russische Invasionsarmee nämlich in Donezk weiter voran.

„Wir erreichen unsere Ziele“, schrieb der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Montag im Messenger-Dienst Telegram über den seit zwei Wochen andauernden Einmarsch in Kursk und fügte hinzu, dass weitere russische Soldaten gefangen genommen worden seien – das berichtet aktuell die Nachrichtenagentur Reuters. „Unsere Ziele“ betrifft auch eine dritte Brücke, über die Russlands Nachschub in die Region läuft. Das Magazin Newsweek sieht in der aktuellen Neutralisierung der Brücke in der Nähe des Dorfes Karyzh, westlich von Glushkovo und Zvannoye, den letzten Zugang in die Region und erwartet das baldige Ausbluten der russischen Truppen vor Ort.

Für den Ukraine-Krieg in Kursk müsste Russland bis zu 20.000 Mann aufbieten

Das Institute for the Study of War (ISW) macht denn auch eine verheerende Rechnung auf und zieht Schätzungen des Wall Street Journal (WSJ) heran. Wenn Wladimir Putin die Ukrainer zurückwerfen wollte, müsste er zu einer massiven Gegenoffensive antreten lassen. Eine anonyme ukrainische Quelle will gegenüber dem WSJ angegeben haben, dass in der Region Kursk inzwischen 6000 ukrainische Soldaten stationiert seien – bis zu 4000 würden aus der Region Sumy heraus unterstützen und Entsatz bieten. Für Russland wäre eine Gegenoffensive insofern eine Herkulesaufgabe, wie die Quelle der WSJ vermutet.

„Und Russland hat quasi angeklopft und gefragt nach einem Gefangenen Austausch, weil einfach die Tatsache, dass dort Wehrpflichtige gefangen genommen wurden, ans Licht gebracht hat, dass die da im Einsatz sind, und das ist eben sehr sehr umstritten in Russland.“

Laut dem österreichischen Magazin Truppendienst verläuft ein Angriff mehrstufig: vom Anmarsch bis zur Ablauflinie, über das Überschreiten der Ablauflinie in Gefechtsformation, der Annäherung an das Angriffsziel, den Einbruch in das Angriffsziel, den Kampf im Angriffsziel und die Sicherung des Angriffszieles. „Der Angreifer wird versuchen, mit seinem Schwergewicht auf die erkannte Schwachstelle des Verteidigers zu ,schlagen‘, um im Sturm über den Gegner hinwegzustoßen. Die zu erwartende Überlegenheit der angreifenden Kampftruppen beläuft sich auf ein Verhältnis von 3:1 bis 10:1“, schreibt Major Markus Ziegler im Truppendienst.

Demnach müsse die russische Gegenoffensive neben den entsprechenden Fahrzeugen und der Artillerievorbereitung eine Stärke von bis zu 20.00 Kräften umfassen – gut ausgebildete Kräfte, äußert auch die ukrainische Quelle des WSJ. Die versucht der Kreml offenbar gerade zu mobilisieren, wie Le Monde schreibt: „Gemeinsam bieten das Moskauer Rathaus und das Verteidigungsministerium nun jedem Freiwilligen, der an die Front geht, jährlich 5,2 Millionen Rubel (mehr als 50.000 Euro).“

Verluste der Brücken in Kurs machen für Russland eine schnelle Gegenoffensive utopisch

Wie das ISW analysiert, gründet die Verzögerung der schnellen ukrainischen Vorstöße auf Kursk vornehmlich auf die Umgruppierung eigener Kräfte. Diese Eindämmung sei jedoch nur die erste und wahrscheinlich am wenigsten ressourcenintensive Phase der russischen Reaktion im Bezirk Kursk, mutmaßt das ISW. Ohne nachgeführte Truppen, Ausrüstung und Material sei eine Gegenoffensive utopisch, legen die Analysten nahe. Je nachdem, wie sich die Ukraine in der Region Kursk verstärkt, wird Russland seine Anstrengungen multiplizieren müssen.

Immer noch verharmlose die russische Propaganda die Realität in der Region Kursk, berichtet Le Monde: „Die Operation zur Vernichtung ukrainischer Streitkräfte geht weiter“, töne RVvoenkor, einer der führenden kriegsfreundlichen Telegram-Kanäle. Jeden Tag beziffere der Kanal die Verluste des Feindes und beweise mit Videos, wie russische Kampfjets ihre Ziele erfolgreich träfen. Implizit bestätigten offizielle Informationen jedoch ukrainische Vorstöße, so Benjamin Quénelle.

Die New York Times dagegen nährt den Verdacht, die russische militärische Führung könne Kursk womöglich links liegenlassen. Constant Méheut zufolge belegten Gefechtsfeldkarten, dass russische Truppen weiter auf die Stadt Pokrowsk marschierten. Damit würde die Hoffnung der Ukraine zerstieben, dass ihre Offensive und der damit einhergehende Verlust an Reputation beziehungsweise an Territorium Moskau zum Einlenken und zum Rückzug an seinen Fronten an der Ostukraine zwingen könnte. Die Zerstörung einer oder jetzt dreier Brücken wäre taktisch wie strategisch für die Ukraine insofern wertlos – das ISW urteilt: Putin würde seine Prioritäten beibehalten.

Selenskyj holt zum großen Wurf aus – sonst machen seine Attacken auf Kursk wenig Sinn

Das Magazin Foreign Policy wiederum orakelt vom ersten Zeichen eines großen Wurfes der ukrainischen militärischen Führung –John Deni will aus der Offensive „wichtige Erkenntnisse über den langfristigen Verlauf des Krieges“ herauslesen können. Möglicherweise stecke dahinter ein Teil einer umfassenderen Militärkampagne, die sich bis weit ins Jahr 2025 hineinziehen könnte und gezielt die Bühne für Operationen anderswo bereite, wie der Forschungsprofessor am Strategic Studies Institute des US Army War College interpretiert.

„Sollten sich diese vorläufigen Schlussfolgerungen bestätigen, könnte sich die Kursk-Offensive als wichtiger Wendepunkt erweisen“, schreibt Deni – dann ergäben auch die Sprengungen der Brücken wiederum Sinn. Das Wall Street Journal berichtet allerdings auch vom genauen Gegenteil: nämlich von Aussagen ukrainischer Besatzungs-Soldaten, wonach Nahrungsmittel knapp geworden waren, Wasser und Zigaretten; was verdeutlicht, dass auch die Ukraine weiter vorgerückt ist, als dass ihre Logistik auf feindlichem Territorium adäquat nachziehen könnte. „In den Supermärkten waren frische Produkte verdorben, weil es keinen Strom gab, und die Besatzungstruppen zögerten, Vieh zu erschießen“, schreibt das WSJ.

Hinweise darauf, dass diese These von John Deni belastbar ist, geben tatsächlich die von Le Monde dargestellten offensiven Rekrutierungsbemühungen Russlands. Ein Indiz nämlich dafür, dass sich Russland offenbar den eingedrungenen Truppen tatsächlich stellen will. Ein Indiz ebenfalls dafür, dass auch Russland nur punktuell ernst zu nehmende massierte Truppen aufbieten kann. Nach Angaben von Newsweek habe Russland zwei Drittel seiner vor dem Ukraine-Krieg verfügbaren Truppen eingebüßt, wie Quellen aus Kiew behaupten. Das Kursk-Desaster habe Russlands Schwächen bloßgelegt, bilanziert das Magazin.

Russland ist inzwischen aufgewacht – und streitet um den Fronteinsatz Wehrpflichtiger

Was Putin ganz anders darstellt, wie die russische Nachrichtenagentur Tass Anfang Juni veröffentlicht hat: „Ich kann Ihnen sagen, dass unsere Verluste, insbesondere die unwiederbringlichen Verluste, sicherlich erheblich geringer sind als die der Gegenpartei“, hielt Wladimir Putin während einer Pressekonferenz in St. Petersburg fest. „Was die unwiederbringlichen Verluste betrifft, so liegt das Verhältnis bei eins zu fünf“, präzisierte Putin laut der Tass.

Verluste sind auch territorial ein Thema – dabei ist der Gewinn in Kursk verschwindend gering: 0,006 Prozent des riesigen russischen Reiches seien jetzt in der Hand der Ukraine, sagte Tagesspiegel-Journalist Christian Tretbar in der Presserunde auf Phönix; das wäre also kein Grund zur Sorge für Putin. Auch die freie Journalistin Gesine Dornblüth fürchtet keine größeren militärischen Manöver Russlands angesichts des ukrainischen Einmarsches.

Ihr zufolge zählten vor der Welt vielmehr die Hunderte Gefangener – „einige Quellen sprechen sogar von 2000“, wie sie sagt. Das sei der Punkt, an dem sich Russland tatsächlich bewege, an dem die Ukraine Russland zur Reaktion zwingen könne. „Und Russland hat quasi angeklopft und gefragt nach einem Gefangenen-Austausch, weil einfach die Tatsache, dass dort Wehrpflichtige gefangen genommen wurden, ans Licht gebracht hat, dass die da im Einsatz sind und das ist eben sehr, sehr umstritten in Russland.“

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