Zwischen Grusical und „Faust III“: Die Bregenzer Festspiele zeigen Webers „Freischütz“
So viel geredet wurde auf der Seebühne noch nie: Philipp Stölzl krempelt den „Freischütz“ um – mit neuen Texten, Kino-Effekten und groteskem Humor. Das birgt auch Probleme und macht trotzdem Spaß.
Die große Frage ist doch: Von wem ist das Kind? Tatsächlich vom Verlobten Max, dem braven Protokollschreiber? Oder von einem der schneidigen Burschen, die zwei Stunden lang durchs kalte Wasser patschen? Tatsache ist: Agathe ist schwanger. Und kein Hascherl, sondern – ebenso wie die Vertraute Ännchen – eine selbstbewusste Frau. Die hätte gut 300 Jahre später die „Emma“ abonniert und passt keinesfalls hierhin, in dieses zerstörte, windschiefe, fast untergegangene Dorf am Ende des Dreißigjährigen Krieges. Die Lösung? Abhauen. Heirat? Verhandlungssache. „Ist die Hochzeit geschehen, kannst du nie mehr gehen“, mahnt Ännchen.
Das steht so nicht im Text von Friedrich Kind, den er für Carl Maria von Weber dichtete. Wie so vieles andere in dieser neuen Seebühnen-Produktion für die Bregenzer Festspiele. „Freischütz“-Fans müssen sehr stark sein, sie dürften vieles nicht wiedererkennen. Und doch bleibt es ihr Stück. Denn das Beste: Hinter der Umkrempelung steht keiner, der des Deutschen liebste Romantik-Oper verhunzen will, sondern ein großer Liebender. Philipp Stölzl hat Bregenz bekanntlich 2019 einen spektakulären „Rigoletto“ beschert, „Der Freischütz“ war 2005 in Meiningen sein Entrée ins Opernleben.
Winterliches Wimmelbild
Schon seinerzeit bürstete er das Stück mit Bizarrhumor nicht gegen den Strich, sondern holte es als schräge, gleichwohl historisierende Groteske ins Heute. Stölzl, wie fast immer sein eigener Bühnenbildner, hat sein damaliges Konzept für Bregenz monumentalisiert und weitergetrieben. Statt auf eine ikonische Szenerie mit Skulptur-Charme (man denke nur an seinen „Rigoletto“-Narrenkopf) blickt man nun aufs winterliche Wimmelbild. Mehr Breughel als Fokussierung. Überall passiert etwas, Stölzl, der Kino- und Schauspiel-Mann, hat das minutiös choreografiert. Manchmal verstellt ein knorriger Baum die Blickachse – die Seebühne wird dann zum Filmset, die Nahaufnahme einer Kamera wäre da nicht schlecht gewesen.

Agathe liegt schon zur Ouvertüre im Sarg, Max wird erhängt: Dieser „Freischütz“ ist eine zweistündige, pausenlose Rückblende. Und dafür sorgt Samiel, ein aasiger Spielmacher, ein alerter Mephisto. Der klettert auf Bäume oder zur Wolfsschlucht auf eine feuerspeiende Seeschlange, spricht in Reimen à la Goethe, mischt sich gern in Arien ein, singt sogar mit. Moritz von Treuenfels vom Münchner Residenztheater macht das umwerfend gut, schont sich nie und wird zum bejubelten Mittelpunkt. Ein Abend zwischen Kino-Blockbuster, Grusical und „Faust III“.
Die Eingriffe in die Musik sind Methode. Die C-Dur-Apotheose der Ouvertüre fehlt, ebenso Ännchens „Kettenhund“-Arie. Dafür untermalt ein kleines Ensemble mit Cembalo, Akkordeon und Kontrabass am rechten Rand die Dialoge. Und geredet wird sehr, sehr viel. Im Vorfeld kündigte Stölzl listig die „erste Schauspiel-Premiere“ auf der Seebühne an, er hat nicht zu viel versprochen. Wo sich sonst große musikalische Gesten Raum verschaffen, fühlt man sich ins Sprechtheater versetzt. Vielen stößt das sauer auf, in den Beifall mischen sich – in Bregenz noch nie gehört – Buhs. Während der Dialoge fehlen die Untertitel, dieser „Freischütz“ richtet sich ausschließlich ans deutschsprachige Publikum. Das kann man als Problem sehen.
Teilweise schwache Premierenbesetzung
Die Sprechtexte hat Stölzl mit Jan Dvorak umgeschrieben. Endlich erlebt man kein mühevoll aufsagendes Gesangspersonal, alle haben die Worte zu ihrer Sache gemacht. Auch in den Musiknummern gibt es so überraschende wie schlüssige Neuerungen. „Männer sind mir böse Gäste“ statt „Grillen“, singt Ännchen, sie hat da wohl ihre Erfahrungen. Wie immer sind in Bregenz die Rollen bis zu dreifach vergeben. In der Premiere offerieren die Festspiele die prominenteste Besetzung seit Langem. Doch die Papierform unterscheidet sich vom Ergebnis. Alles gute Typen, keine Frage. Nikola Hillebrand ist als Agathe mit schlankem, gehaltreichem Sopran den anderen weit voraus. Mauro Peter trickst als Max mit der Höhe, Christof Fischesser ist ein brummig-kerniger Kaspar ohne Dämonie, Katharina Ruckgaber ein sehr lyrisches Ännchen und Franz Hawlata als Kuno mit dem Timing überfordert.
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Dirigent Enrique Mazzola hat’s mit den Wiener Symphonikern gern al dente. Anfangs wirkt das noch etwas bleiern, doch dann nimmt die Deutung Fahrt auf. Ein klanglich trennscharfer Slalom durch Webers Partitur, reaktionsschnell, mehr Fitnessstudio statt füllige Romantik. Die Bregenzer Technik unterfüttert das mit satten Klängen, am Mischpult sitzt ein Subwoofer-Fan. Die Ton-Effekte sind verblüffend. Mal scheinen Geier und Adler über der Tribüne zu kreisen, fernes, dann sehr nahes Donnergrollen lässt manchen der 7000 ängstlich nach oben blicken.
Samiel streckt uns die Zunge heraus
In der Wolfsschlucht, Schlüsselszene des „Freischütz“, lässt es Stölzl mächtig wabern. Fast hätte man von ihm, den Mann fürs Große, manchmal Grobe, mehr erwartet. Aus dem Wasser erheben sich die Toten, es sind Kriegsopfer – die gerade überstandenen Schlachten (und nicht nur die) sind plötzlich sehr präsent. Je länger der Abend, desto stärker das Augenzwinkern. Fürst Ottokar kurvt auf der Kufenkutsche à la Ludwig II. einher und befummelt Agathe. Und auf der Zielgerade, nachdem Agathe durch den Fehlschuss ihres geliebten Max zusammengebrochen ist, stoppt Samiel alles.
Es wäre, heftiges Nicken der Operndramaturgen, der bessere Schluss. Und Webers Finale mit der plötzlich erwachenden Agathe, mal ehrlich: zu schön, um wahr zu sein. Also inszeniert Samiel genau dies als zu dick aufgetragenes Happy End. Der Eremit stolziert als Patriarch daher, Andreas Wolf leiht ihm seinen machtvollen Bass. Als der alles lösende Gottesmann auf der Seeschlange steht, schwant einem Übles. Es ist der verkleidete Samiel, der allen die Zunge herausstreckt. Wer will, kann bei diesem „Freischütz“ berechtigte Einsprüche erheben. Alle anderen haben einen Riesenvorteil: Sie fühlen sich prächtig unterhalten.