So nehmen die Heckenschützen von Union und SPD die Koalition ins Visier

Eigentlich wollen sich die Spitzen der Koalition effizient durch die Reformpakete arbeiten: Doch an den linken und rechten Rändern der Parteien brodelt es.   

Erst beschimpfte die SPD-Vorsitzende und Arbeitsministerin Bärbel Bas Aussagen ihres Kanzlers als "Bullshit". Dann demonstrierte die Vize-Fraktionschefin der SPD, Wiebke Esdar, in erster Reihe auf der Straße gegen den auch von ihrer Partei gewählten Regierungschef.  

SPD-Abgeordnete verbünden sich mit Grünen gegen eigene Regierung 

Dann unterschrieben Politiker der SPD mit oppositionellen Grünen ein Papier, das die von Union und SPD beschlossenen Verschärfungen des Asylrechts stoppen soll. Eigentlich ein No-Go, dass sich Politiker einer Regierungspartei offen mit der Opposition verbünden.

Und all das passiert, während der von Friedrich Merz verkündete "Herbst der Reformen" mit nur wenigen Beschlüssen vorbeizuziehen droht. Am Donnerstag treffen sich die Koalitionäre, um einige der Streitpunkte abzuräumen. Steckt die Koalition in der Krise oder ist das alles nur mediales Getöse? FOCUS online hat sich bei vielen Abgeordneten und Parteimanagern der Koalition umgehört. 

Union wittert SPD-Linke, die vom Koalitions-Ausstieg träumt 

Wann ist die Schmerzgrenze erreicht? Diese Frage beantworten Menschen, die in Union und SPD etwas zu sagen haben, sehr unterschiedlich. Teilweise sind die Wahrnehmungen sehr verschieden. 

In der CDU gibt es Leute, die bei den Sozialdemokraten bereits Ausstiegsüberlegungen wahrnehmen. Es gebe eben Abgeordnete in der SPD-Fraktion, für die sei ein Scheitern der Koalition nicht so dramatisch, die träumten sogar ernsthaft von einer neuen Mehrheit links der Union, heißt es. 

Merz stellt bei Renten-Forderung der SPD die Machtfrage 

Gleichzeitig droht die Junge Gruppe der Union – der Zusammenschluss der Abgeordneten unter 35 Jahren – unverhohlen mit einer Blockade der Rentenreform, wenn die Union nicht die SPD-Forderung eines garantierten Rentenniveaus von 48 Prozent kippt. Aus Unionskreisen ist zu hören: Die Drohung ist ernst zu nehmen. 

Denn die Junge Gruppe verfügt über 18 Mitglieder. Die Koalition hat aber nur eine Mehrheit von 12 Stimmen im Bundestag. Es sei nachvollziehbar, dass die jungen Abgeordneten jetzt gerade aufbegehren, heißt es aus Unionskreisen. Nachverhandlungen mit der SPD seien also nicht auszuschließen. 

Andererseits hat sich Kanzler Merz in diesem Punkt klar auf die Seite der SPD gestellt, weil er weiß, dass die 48 Prozent zu den essenziellen Wahlkampfversprechen der Sozialdemokraten gehört.

Bis Jahresende sollte das Rentenpaket durch Bundesrat und Bundestag. Doch bis dahin stehen nach FOCUS-online-Informationen nur noch drei Koalitionsausschüsse auf dem Programm, in denen der Konflikt auf höchster Ebene gelöst werden könnte. 

Linnemann: "Es darf nur nicht persönlich werden" 

CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann bezeichnet die Koalition im Gespräch mit FOCUS online als stabil. Allerdings habe sich der Stil im Vergleich zu anderen Koalitionen verändert: "Wir erleben eine neue Normalität. Hart in der Sache, aber mit offenem Visier. Es darf nur nicht persönlich werden. Diese Grenze müssen wir alle einhalten."

Die Aussage kann sicherlich als Aufruf zur Mäßigung an hochrangige SPD-Politiker verstanden werden, die Kanzler Merz in der "Stadtbild"-Debatte in die Nähe des Rassismus gerückt hatten.  

Die Koalition sei trotzdem besser als ihr Ruf, sagt der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Alexander Throm, im Gespräch mit FOCUS online: "Wir arbeiten auf fachlicher Ebene konstruktiv und konzentriert zusammen, um Deutschland voranzubringen." 

"Nicht alles ist jetzt glücklich gelaufen. Wo gehobelt wird, fallen Späne. Da hat sich der eine oder andere erschrocken. Doch wir und die SPD sind Arbeitskollegen. So ist das eben", sagt Sepp Müller von der CDU. 

Andere Stimmen zeigen sich gegenüber FOCUS online genervt von den ständigen SPD-Attacken – wollen aber nicht zitiert werden. Eine CDU-Abgeordnete sagt: "Die SPD muss verstehen, dass es in einer Regierungskoalition nicht darum geht, das SPD-Grundsatzprogramm durchzudrücken". 

Es gehe darum, tragfähige Kompromisse "für die Zukunft unseres Landes" zu finden. Sie fordert von der SPD "weniger Empörung, weniger Oppositionsgebaren, mehr Problemlösung". Die Koalition bezeichnet sie aber als krisenfest. 

Diskussionen um Koalitionsbruch eher in Partei als in Fraktion

Die Diskussionen in der Union über einen Koalitionsbruch kommen offenbar eher aus der Partei und ihren Vorfeldorganisationen als aus der Bundestagsfraktion und von Regierungsmitgliedern. Das hat zwei Gründe: Zum einen ist ein Koalitionsbruch immer auch ein Risiko für die Jobs von Abgeordneten und Ministern.  

Dass diejenigen, die näher am Machtzentrum der Regierung dran sind, weniger über einen Koalitionsbruch nachdenken, liegt auch an einem menschlichen Faktor: Kanzler Merz und Vizekanzler Klingbeil sprechen schon allein durch ihre Funktionen regelmäßig miteinander. 

Dadurch ist zwischen den beiden ein belastbares Vertrauensverhältnis entstanden – oder wie es Klingbeil zu Merz‘ 70. Geburtstag sagte: ein Arbeitsverhältnis. In Abstufung gilt das auch für die jeweiligen Counterparts in den Fraktionen von Union und SPD. 

Anders sieht es beispielsweise in den Landes- oder Kreisverbänden der Parteien aus. Dort ist die Koalition in Berlin weit weg. Union und SPD sind in zahlreichen Bundesländern und Kommunen nicht in einem Bündnis, sondern Konkurrenten in Regierung und Opposition. Dieses Gegeneinander könnte sich im kommenden Jahr noch einmal verschärfen, wenn gleich in fünf Bundesländern Landtagswahlen anstehen. 

CDU-Abgeordneter kritisiert die Ränder von Union und SPD 

Gleichwohl gibt es auch im Berliner Politikbetrieb heikle Dynamiken. Ein CDU-Abgeordneter warnt im Gespräch mit FOCUS online: "Es ist gefährlich, dass es in beiden Koalitionsfraktionen kleine Gruppen gibt, die um jeden Preis ein für sie wichtiges Thema durchdrücken wollen." 

Diese Leute würden aber nicht bedenken, dass es in der jeweils anderen Fraktion Abgeordnete gibt, die dann auch unbedingt etwas durchsetzen wollen. Das führt nur in eine "Spirale der Kompromisslosigkeit", so die Befürchtung. 

Merz-Regierung ist schwächer aufgestellt als jede Merkel-Regierung 

So einen Teufelskreis gab es auch schon in früheren Koalitionen. Doch heute ist er gefährlicher als früher: Die schwarz-roten Koalitionen unter Angela Merkel hatten im Bundestag immer satte Mehrheiten von 141, 188 und 44 Stimmen. Unter Merz ist der Puffer viel kleiner, die Koalition agiert immer nahe am Abgrund. 

Das verleiht kleinen Rebellengruppen ein größeres Drohpotenzial – sei es der Jungen Gruppe gegen das Rentenpaket oder den SPD-Kritikern am Asylpaket. 

Es gibt noch einen zweiten Unterschied zwischen Merkel und Merz: Erstere hatte mit Volker Kauder lange Zeit einen Fraktionsvorsitzenden, der die Abgeordneten auf Linie hielt. Der aktuelle Fraktionschef Jens Spahn hat das im ersten halben Jahr der Koalition schon zweimal nicht geschafft: bei der Kanzlerwahl und bei der geplanten Wahl von Frauke Brosius-Gersdorf zur Verfassungsrichterin. Einige Unionsabgeordnete lasten auch ihm an, für den fragilen Zustand der Koalition verantwortlich zu sein. 

Schwarz-Rot fällt jetzt zudem auf die Füße, dass Merz nach der Bundestagswahl zu einem schnellen Abschluss der Koalitionsverhandlungen kommen wollte. Unter Zeitdruck wurden zahlreiche Formelkompromisse geschlossen, um manche Streitthemen nicht langwierig diskutieren zu müssen. Auch innerhalb der jeweiligen Parteien wurden damals nicht alle Streitpunkte aufgelöst, so zum Beispiel bei der Streichung des Bürgergelds für Ukrainer.

Aus der Partei ist dazu zu hören, im Koalitionsvertrag sei „nun mal nicht alles bis ins kleinste Detail ausverhandelt“, und jetzt werde eben um diese Details gerungen – alles ganz normal in der Politik. 

SPD stellt in Frage, ob es überhaupt ein Heizungsgesetz gibt 

So war es auch beim Heizungsgesetz. Im Koalitionsvertrag steht dazu pauschal, dass es abgeschafft werden soll. Das Problem: Nirgendwo ist definiert, was genau damit gemeint ist. Die Union versteht laut eines Berichts von "Table Media" die Formulierung so, dass Robert Habecks Novelle des Gebäudeenergiegesetzes zurückgedreht wird.

In der SPD gibt es manche, die argumentieren, es gebe gar kein Heizungsgesetz – das sei nur eine unpräzise Formulierung der Medien. Es gebe unter dem Begriff also nichts, was abgeschafft werden könne. 

Stadtbild-Debatte: "Für einige war Merz damit zu nah an der AfD" 

Und auch in Sachen "Stadtbild" ist der Ärger beim linken Flügel der SPD über Merz noch nicht verhallt. "Für einige war er damit zu nah an der AfD", sagt ein Mitglied der SPD-Fraktion gegenüber FOCUS online. 

Beiden Koalitionspartnern liege schwer im Magen, dass die Rechtsaußenpartei nicht kleiner werde in den Umfragen. Dabei würde sich die Koalition beim Regieren doch nach Kräften bemühen. Der Effekt gegen die AfD sei eben noch nicht sichtbar.  

Knackpunkt Bürgergeld noch immer nicht geklärt 

Bei der Bürgergeld-Reform gibt es immer noch keinen Durchbruch. Am Mittwoch sollte ein Gesetzentwurf zur Grundsicherung im Kabinett beraten und beschlossen werden. Doch der Tagesordnungspunkt wurde gestrichen. Manche Koalitionäre rechnen mittlerweile damit, dass die Reform erst kurz vor Weihnachten ins Kabinett gehen wird. 

Mitglieder beider Parteien sprechen von der ersten Ernüchterung, der ersten Enttäuschung, dem ersten Kater. Auf beiden Seiten in der Koalition gebe es jetzt Leute in den Fraktionen, die sich oppositionell verhalten, heißt es von mehreren Abgeordneten gegenüber FOCUS online. 

Bruch wie bei der Ampel sieht noch niemand

Dem linken Flügel in der SPD ist die Merz-CDU zu rechts. Sie sagen, sie fühlten sich getrieben, müssten alles von CDU und CSU einfach so mittragen. Die Rechten in der Union wiederum wollen der AfD endlich Wähler abjagen. Ihnen ist die Bas-Klingbeil-SPD mit einem in ihren Augen blassen wie umstrittenen Fraktionschef Matthias Miersch einfach zu links. 

Doch einen Bruch wie bei der Ampel vor genau einem Jahr sieht niemand, mit dem FOCUS online gesprochen hat. Ideologisch gebe es Unterschiede, erklärt eine SPD-Abgeordnete, aber das behindere die Arbeit nicht: "Wir glauben auch, dass wir es mit der Union hinbekommen."

So ist aus gut informierten Unions-Kreisen zu hören: Die Koalition sei bei aller Kritik in einem "rekordverdächtigen Tempo unterwegs" und das bei ganz dicken Brocken wie der Migration und den Sozialreformen. Die Tonlage in der Koalition sei insgesamt konzentriert und gut – ganz anders als in der gescheiterten Ampel. 

Ampel-Vergleiche stoßen der Union sauer auf

Überhaupt, diese Ampel-Vergleiche: Sie stoßen manchen in der Union sauer auf. In der Spätphase der Scholz-Regierung seien doch keine Entscheidungen mehr getroffen worden, zu zerstritten seien die Partner gewesen. Das sei jetzt definitiv anders. Und aus Sicht der Union müsse man auch immer beachten, dass es oft um Themen gehe, die von der SPD als führender Partei innerhalb der Ampel mitbeschlossen wurden, etwa das Heizungsgesetz. Dass die SPD da nicht freudestrahlend Änderungen mitmache, müsse doch jedem klar sein. 

Öffentliche Streitigkeiten seien bei drei selbstbewussten Partnern normal, die alle zu schwach seien, es allein zu machen. Die Auseinandersetzungen aus dem Wahlkampf seien durch eine Koalition nun mal nicht "weggebügelt".

Das allerdings spräche eher für die Notwendigkeit, den Bogen der öffentlichen Streitigkeiten nicht zu überspannen. Denn die sorgen beim Wahlvolk zunehmend für Verdruss.