Deutschlands unterschätztes Alkohol-Drama: "Ich trinke, weil ich es nicht mehr aushalte"

Acht Millionen Deutsche trinken zu viel. Warum gerade in Konfliktsituationen so viele Menschen zu Alkohol greifen, welche Folgen das hat und was wir tun können, um Klarheit statt Kater zu fördern.

Alkohol beruhigt – aber löst nichts

Konflikte bringen Unruhe. Alkohol verspricht Erleichterung. Doch das Versprechen ist trügerisch.

Aus psychologischer Sicht erfüllt Alkohol in angespannten Situationen eine doppelte Funktion: Er dämpft unangenehme Emotionen wie Ärger oder Scham (negative Verstärkung) und erzeugt kurzfristig ein Gefühl von Kontrolle. 

Die Folge: Man fühlt sich entlastet, ohne dass sich tatsächlich etwas ändert. Die Alarmanlage ist ausgeschaltet – aber der Brandherd lodert weiter.

In der Praxis ist das gefährlich. Konflikte entwickeln eine Eigendynamik, wenn sie nicht angesprochen werden. Wer trinkt, statt zu klären, lagert den inneren Druck aus – bis er unkontrolliert zurückkehrt. In Form von Wut, Rückzug oder Erschöpfung.

„Ich trinke nicht, weil ich süchtig bin. Ich trinke, weil ich es nüchtern nicht mehr aushalte“, sagte mir ein Mann in leitender Position. Er war nicht allein mit diesem Gefühl – aber sehr einsam damit.

Wenn Alkohol zur Flucht vor Konflikten wird

Niemand trinkt, um ein Problem zu lösen. Man trinkt, um es nicht mehr zu spüren.

Konflikte fordern uns heraus. Sie zeigen uns unsere Grenzen, unsere Schwächen, manchmal auch alte Verletzungen. Alkohol scheint da wie eine gute Idee: entspannend, entlastend, entfernend. Doch genau das ist der Punkt – er entfernt uns nicht nur vom Problem, sondern auch von der Lösung.

Über Christoph Maria Michalski

Christoph Maria Michalski ist „Der Konfliktnavigator“, Vortragsredner und Coach für Entscheidungsträger im Beruf. Es gibt zwar viele Instrumente für eine bessere Kommunikation, aber kein System, wie diese Werkzeuge konkret angewendet werden können. Dafür hat er KonfliktFLOW entwickelt - 6 Wegpunkte als Checkliste für eine erfolgreiche Vorgehensweise. Als Marathonläufer weiß er, dass Erfolg das Ergebnis eines kontinuierlichen Trainings ist.

In der Psychologie nennen wir das emotionale Vermeidung. Ein Gefühl, das eigentlich Ausdruck finden will, wird betäubt. Es entsteht ein Verhaltensmuster: „Konflikt – unangenehm – trinken – besser fühlen.“ Kurzfristig entlastend, langfristig verhängnisvoll.

Ein Teamleiter berichtete: „Ich hätte mit meinem Kollegen reden sollen. Stattdessen habe ich Freitagabend drei Bier aufgemacht.“ Am Montag war der Ärger noch da. Nur die Klarheit war weg.

Alkohol verzerrt unsere Wahrnehmung – und unsere Reaktionen

Ein Konflikt unter Alkoholeinfluss ist wie ein Streit im Spiegelkabinett: Man sieht sich – aber verzerrt.

Was nüchtern wie eine irritierende Bemerkung erscheint, wirkt betrunken wie ein Angriff. Die Fähigkeit zur Impulskontrolle sinkt. Die Amygdala – das emotionale Alarmsystem des Gehirns – übernimmt die Steuerung. Logik, Perspektivwechsel, Empathie? Fehlanzeige. Stattdessen: Eskalation auf offener Bühne.

„Ich hab mich nicht wiedererkannt“, sagte mir eine Frau nach einem Streit mit ihrer Schwester. Beide hatten auf der Hochzeit der Cousine zu tief ins Glas geschaut. „Da war Wut, da war Traurigkeit – aber es war auch der Wein.“

Unter Alkohol werden Konflikte nicht geklärt – sie werden geladen. Die Verbindung zum Gegenüber bricht ab. Zurück bleibt oft ein emotionaler Scherbenhaufen, der sich am nächsten Tag nur schwer zusammenfegen lässt.

„Seit wir alkoholfreie Team-Events machen, wird mehr gestritten – aber auch mehr geklärt“

In vielen Firmen gehört Alkohol zur Unternehmenskultur – wie der Flipchart zur Strategie.

Ein Bier nach der Projektabgabe, ein Sekt zum Jahresabschluss, ein Glas Wein beim Teamabend: Es soll locker machen, verbindend wirken, Hierarchien auflösen. Doch was als gesellig gemeint ist, kann auch Konfliktvermeidung im Tarnanzug sein. Denn wo getrunken wird, wird oft nicht mehr offen gesprochen.

Führungskräfte tragen hier eine besondere Verantwortung. Wer als Chef regelmäßig mittrinkt, setzt ein Zeichen – aber welches? Nähe kann entstehen, ja. Aber auch Unsicherheit, Ausgrenzung oder peinliche Momente, die länger nachhallen als ein Business-Lunch.

Eine HR-Managerin schilderte mir: „Seit wir alkoholfreie Team-Events machen, wird mehr gestritten – aber auch mehr geklärt.“ 

Klarheit statt Rausch. Widerstand statt Stillstand. Reibung statt Nebel. Vielleicht ist genau das, was Teams heute brauchen.

"Er braucht halt seinen Wein“ – Die gefährliche Verharmlosung

Alkohol ist in unserer Gesellschaft so tief verwurzelt, dass selbst problematischer Konsum oft verharmlost wird.

Besonders in stressigen Zeiten wird Trinken als „normal“ dargestellt: Wer beruflich viel leistet, darf sich ja auch „etwas gönnen“. Wer privat überfordert ist, wird nicht gefragt, sondern betrunken verstanden. Die Gefahr dabei: Alkohol wird zum Coping-Tool – gesellschaftlich toleriert, psychologisch problematisch.

Dahinter steckt oft eine kollektive Abwehr. Wer zugibt, dass der Chef zu viel trinkt, muss die Teamkultur hinterfragen. Wer erkennt, dass der Kollege sich mit Bier gegen den Burnout wehrt, müsste eingreifen. Und wer selbst betroffen ist, müsste ehrlich zu sich sein.

Ein Unternehmensberater sagte mir: „Ich trinke nicht auffällig – ich trinke mit allen anderen.“ Das ist das eigentlich Alarmierende.

Und was bleibt, wenn man Konflikte dauerhaft mit Alkohol bekämpft?

Nicht viel. Außer Einsamkeit, Reue – und manchmal ein Leben, das sich wie ein leerer Raum anfühlt.

Wer regelmäßig trinkt, um Konflikten auszuweichen, verliert den Kontakt – zu sich selbst und zu anderen. Beziehungen verflachen, Gespräche werden oberflächlich, Nähe wird anstrengend. Statt Konfrontation gibt’s Konsum. Statt Klärung kommt Kater. Und irgendwann die Frage: Wann genau bin ich abgebogen?

Psychologisch sprechen wir von emotionaler Abflachung: Die Gefühle werden flacher – aber nicht nur die unangenehmen. Auch Freude, Stolz, Liebe verlieren ihre Farbe.

Eine Führungskraft erzählte mir nach einem Entzug: „Ich hab alles geregelt – nur mich selbst nicht. Jetzt weiß ich: Konflikte machen mich lebendig. Alkohol hat mich bloß betäubt.“

Fazit: Mehr Mut zur Klarheit – weniger Angst vor Reibung

Konflikte gehören zum Leben – wie Stress, Enttäuschung, Überforderung. Alkohol ist kein Feind, aber auch kein Verbündeter. Wenn er zur Dauerlösung wird, wird er zur Dauerblockade.

Was wir brauchen, ist eine neue Streitkultur: Ehrlicher, nüchterner, lebendiger. Wer mutig Konflikte anspricht, braucht kein Glas zur Absicherung. Wer als Führungskraft Klartext redet, stärkt das Team mehr als jeder Betriebssekt.

Und wer merkt, dass Alkohol mehr nimmt als er gibt – darf sich Hilfe holen. Nicht weil er gescheitert ist, sondern weil er wieder handeln will.

Hinweis der Redaktion: Wenn Sie oder jemand in Ihrem Umfeld ein Alkoholproblem haben, finden Sie Hilfe und Beratung unter https://www.kenn-dein-limit.de/ oder über das Sucht- und Drogen-Hotline-Telefon unter 01805 313031 (täglich, anonym).

Lesetipp (Anzeige)

"Streiten mit System: Wie du lernst, Konflikte zu lieben" von Christoph Maria Michalski

Dieser Beitrag stammt aus dem EXPERTS Circle – einem Netzwerk ausgewählter Fachleute mit fundiertem Wissen und langjähriger Erfahrung. Die Inhalte basieren auf individuellen Einschätzungen und orientieren sich am aktuellen Stand von Wissenschaft und Praxis.