Eine vertrauliche, nun geleakte Liste aus dem Kanzleramt zeigt, wie die Bundesregierung Deutschland in die Zukunft führen will: KI in der Verwaltung, digitale Verfahren, Bürokratieabbau, automatisierte Ermittlungen und schnellere Planungen. Doch Digitalisierung ist kein Selbstzweck und darf auch kein Stückwerk bleiben. Sie muss Teil einer Gesamtstrategie sein, die Prozesse, Menschen und Strukturen verbindet.
Doch als Change-Manager sehe ich in den Ansätzen der Regierung genau das Muster, das viele Organisationen scheitern lässt. Man modernisiert Abläufe, aber nicht das Denken. Digitalisierung wird als Sammlung einzelner Projekte verstanden, nicht als gemeinsamer Wandel. Schauen wir genauer auf die geplanten digitalen Maßnahmen:
Sicherheit & Justiz – Digitalisierung ohne Kulturwandel
Die Bundesregierung plant, Täter häuslicher Gewalt künftig mit elektronischen Fußfesseln zu überwachen, Ermittlungsbehörden automatisierte Datenanalysen zu ermöglichen und die Justiz insgesamt zu digitalisieren. Grundstückskaufverträge sollen künftig elektronisch abgeschlossen, der Austausch zwischen Gerichten, Notaren und Finanzämtern digital erfolgen.
Was daran positiv ist:
Die Justiz gehört zu den am stärksten analog arbeitenden Bereichen Deutschlands. Laut EU-Justizbarometer liegt die Bearbeitungsdauer deutscher Zivilverfahren im oberen Drittel Europas. Eine digitalisierte Justiz könnte Verfahren um bis zu 40 Prozent beschleunigen, Kosten senken und den Wirtschaftsstandort stabilisieren.
Alte Hierarchien zu digitalisieren wird wenig verändern
Digitalisierung verändert keine Organisation, wenn die alten Routinen bleiben. Der Staat denkt in Akten, Zuständigkeiten und Hierarchien. Und überträgt diese Strukturen nun einfach ins Digitale. Das ist, als würde ein Unternehmen sein papierbasiertes Freigabeverfahren in Excel abbilden und das Transformation nennen.
Echte Veränderung beginnt, wenn Systeme neu gedacht werden: mit einheitlichen Datenschnittstellen, digitalen Fallakten, transparenten Bürger-Dashboards und Mitarbeitenden, die Entscheidungen datenbasiert treffen können. Erst wenn Verwaltung wie ein lernendes System funktioniert, wird KI zum Beschleuniger statt zum Feigenblatt.
Kishor Sridhar ist angesehener Berater, Keynote-Speaker und Autor, spezialisiert auf Change Management, Führung und Digitalisierung. Er unterstützt Führungskräfte bei Transformationsprozessen und lehrt an der ISM in München. Er ist Teil unseres EXPERTS Circle. Die Inhalte stellen seine persönliche Auffassung auf Basis seiner individuellen Expertise dar.
Wirtschaft & Infrastruktur – Automatisierung ohne Ownership
Mit dem „Infrastruktur-Zukunftsgesetz“ will die Regierung Planungsverfahren beschleunigen, Genehmigungen vereinfachen und Bürokratie abbauen. Außerdem soll ein digitales Straßenverkehrsregister Verwaltungsvorgänge bündeln.
Was daran positiv ist:
Deutschland verliert jedes Jahr Milliarden durch überlange Genehmigungsprozesse. Laut IW Köln dauert ein Großprojekt im Schnitt 17 Jahre, und Bürokratiekosten belasten Unternehmen jährlich mit 64 Milliarden Euro. Eine konsequent digitale Projektsteuerung könnte hier Staat und Wirtschaft erheblich entlasten.
Technik löst kein Silodenken auf
Wenn jede Behörde weiter in ihrem eigenen Datenraum arbeitet, bleibt auch ein digitales System ein analoger Flickenteppich.
In Unternehmen sehe ich das Gleiche: Automatisierung scheitert selten an der Technik, sondern an verschachtelten Strukturen und fehlender Verantwortlichkeit. Estland hat gezeigt, wie es anders geht. Mit dem Once-Only-Prinzip wurde ein gemeinsames Verständnis von Verantwortung geschaffen, bei dem Verwaltung und Bürger gemeinsam Prozesse neu gestalten. Das Ergebnis: schnellere Entscheidungen, weniger Reibung, mehr Vertrauen.
Arbeit, Soziales & Migration – KI ohne Human Touch
Eine neue „Work-and-Stay“-Agentur soll Fachkräftezuwanderung zentralisieren und mithilfe von Künstlicher Intelligenz beschleunigen.
Was daran positiv ist:
Kaum ein Geschäftsführer in Deutschland, dem ich begegnet bin und der sich nicht über Fachkräftemangel beklagt hat. Deutschland verliert jährlich rund 400.000 Arbeitskräfte netto. Ohne gezielte Einwanderung wird der Arbeitsmarkt bis 2035 um sieben Millionen Erwerbstätige schrumpfen. KI kann hier helfen, Verfahren zu beschleunigen und Verwaltungskapazitäten freizusetzen.
Ohne Menschlichkeit wird KI zum kalten System
Doch Technologie allein löst kein Kulturproblem. KI kann Daten prüfen, aber keine Zugehörigkeit schaffen. In der Wirtschaft zeigt sich: Mitarbeitende folgen nicht der Software, sondern der Vision, die sie trägt.
Deutschland braucht eine echte Willkommensstrategie mit persönlicher Begleitung, mehrsprachigen Ansprechpartnern, Mentorenprogrammen und einer „Employer Brand“ für den Standort Deutschland.
Change heißt, Menschen mitzunehmen. Wer Prozesse digitalisiert, aber Haltung und Werte unverändert lässt, schafft keine Transformation – nur Effizienz ohne Sinn.
Bildung & Gesellschaft – Daten ohne Richtung
Die Zukunft lässt sich nicht ohne Bildung gestalten. Die Regierung setzt auf mehr Analysen, Ganztagsprogramme und regelmäßige Bildungsberichte.
Was daran positiv ist:
Transparenz ist wichtig. Der IQB-Bildungstrend zeigt deutlich, wie groß der Handlungsbedarf ist: Fast ein Viertel der Viertklässler verfehlt die Mindeststandards im Lesen, in Mathematik erreicht nur noch jeder Zweite das Soll.
Wenn Bildung nur vermessen wird, aber niemand sie verändert
Doch Berichte verändern keine Systeme. In Unternehmen wäre das, als würde man Jahr für Jahr Mitarbeiterbefragungen durchführen, ohne je Konsequenzen daraus zu ziehen.
Wie viele Bildungsstudien und PISA-Tests braucht es noch, um zu handeln?
Die Zukunft unserer Kinder darf kein Experimentierfeld sein. Bildung müsste wie ein agiles Entwicklungsprojekt geführt werden, mit schnelleren Ausbildungswegen für Lehrkräfte, einfacheren Länderwechseln, klaren Leistungskennzahlen und einer Evaluation, die auch Lehrkräfte einbezieht. Wer Leistung vermittelt, sollte sie auch verkörpern.
KI & Digitalisierung allein sind keine Lösung
Die KI- und Digitalisierungsmaßnahmen der Bundesregierung sind im Ansatz richtig, zeigen aber das gleiche Problem, das ich seit Jahren in Unternehmen in Change-Projekten beobachte: Digitalisierung und KI werden als Wundermittel verstanden, bleiben aber meist Insellösungen.
KI verändert nichts – sie verstärkt nur, was schon da ist
Nur wer Prozesse neu denkt, Strukturen anpasst und das Zusammenspiel von Mensch und Technologie gestaltet, kann durch Digitalisierung tatsächlich Wirkung entfalten.
KI allein verändert nichts. Sie verstärkt nur das, was schon da ist. KI macht lediglich das Gute besser, aber ebenso das Schlechte schlechter.