Selenskyjs „böses Genie“ ist weg – Gefahr bleibt: „Würde Verhandlungen nicht leichter machen“

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Ein Skandal erschüttert die Ukraine – und Selenskyjs Machtbasis. Sein Strippenzieher musste gehen. Nun nahen neue Probleme. Eine Analyse.

Wolodymyr Selenskyjs Regierung hat dieser Tage eine massive Erschütterung zu überstehen – mitten in einer heiklen Phase. Die Lage an den Fronten im Ukraine-Krieg ist teils prekär, die USA wollen einen „Friedensplan“ durchdrücken, der jedenfalls in seiner Urform einer „Wunschliste des Kreml an den Weihnachtsmann“ glich, wie ein EU-Parlamentarier sagt. Und mit dem bisherigen Stabschef Andrij Jermak musste Selenskyjs wohl wichtigster Vertrauter und Strippenzieher, gewissermaßen die olivgrüne Eminenz in Kiews Machtkorridoren, gehen. Ein Beben. Womöglich mit Folgen.

Wolodymyr Selenskyj (re.) und Andrij Jermak stehen in schwarzen Pullovern in einem Bunker Raum und lauschen einer Person außerhalb des Fotobereichs.
Wolodymyr Selenskyj (re.) und Andrij Jermak im April bei einem Briefing nahe der Front. © IMAGO/Ukraine Presidency

Jermak galt als „Meister der Intrige hinter den Kulissen und böses Genie der ukrainischen Politik“, wie der US-Thinktank Carnegie Endowment for International Peace formulierte. Umstritten war er ohnehin seit Langem. Ukraine-Experte Eduard Klein von der Forschungsstelle Osteuropa an der Uni Bremen meint: Bislang ist Selenskyj „mit einem blauen Auge davongekommen“. Für die Zukunft könnte es Chancen geben – aber auch wachsende Probleme. Daheim in der Ukraine sowie bei den Verhandlungen mit USA und womöglich Russland um einen Frieden. Worum es jetzt geht:

Selenskyj muss auf Jermak verzichten: „Das Image hat stark gelitten“

Umwälzungen in der Ukraine – die Vorgeschichte: Im Sommer erschütterte ein Korruptionsskandal die Ukraine – und tut das bis heute. Im Juli wollte Selenskyj zwei Antikorruptionsbehörden die Unabhängigkeit entziehen, zum großen Ärger der Ukrainer und der EU. Der ukrainische Präsident ruderte zurück. Vielleicht wollte er tatsächlich Vertraute schützen: Die Korruptionsermittlungen brachten erst Selenskyjs Freund Tymur Minditsch unter Verdacht, 100 Millionen Dollar veruntreut zu haben. Just aus dem von russischen Schlägen gebeutelten Energiesektor. Im November folgten Durchsuchungen bei Jermak. Ein unbestätigter Verdacht im Land: Jermak könnte unter dem Decknamen „Ali Baba“ in abgehörten Gesprächen auftauchen.

Damit wurde Jermak wohl selbst für Selenskyj untragbar. Der Stabschef wurde ohnehin mit Argwohn betrachtet. Jermaks Einfluss wirke auf Selenskyj „wie eine Hypnose“, sagte eine Spitzenperson von dessen Partei Diener des Volkes der Nachrichtenagentur AFP. Jermak sei „super paranoid“ und versuche „fast jede Entscheidung zu beeinflussen“, erklärte ein anderer Informant. Auch bei der Entlassung des populären Außenministers Dmytro Kuleba dürfte Jermak eine Rolle gespielt haben. Kuleba behauptete nun, Jermak habe ihm einst den Aufbau von Kontakten zu Donald Trumps Schwiegersohn Jared Kushner untersagt. Ein möglicherweise brisantes Eigentor. Ein direkter Draht zu Trump hätte entscheidend werden können.

Was Jermaks Aus in der Ukraine bedeutet: Die politische Lage im Land ist speziell. Eigentlich hat das Parlament großen Einfluss – dort aber regiert Selenskyjs Partei (noch) mit absoluter Mehrheit. In der Praxis konnte Jermak so Regierung und Parlament steuern. Doch die Probleme für Selenskyj mehren sich. In Umfragen seien seine Vertrauenswerte rapide gesunken, erklärt Klein: von 60 Prozent im September auf 49 Prozent. Und bei Selenskyjs Aussprache vor der eigenen Parlamentsfraktion im Kontext des Korruptionsskandals habe sich „viel Unmut“ gezeigt: „Es wird vermutlich zunehmend schwer werden, schwierige Gesetzesvorhaben – wie EU, IWF et cetera im Gegenzug für ihre lebensnotwendigen Finanzspritzen fordern werden – durchzubekommen.“

Nun braucht es einen neuen Strippenzieher. Jermak habe zwar „viele wichtige Posten mit Leuten aus seinem Umfeld besetzt“, erklärt Klein. Theoretisch könne er so weiterhin Einfluss ausüben. Aber Jermak habe kaum öffentliche Unterstützung erhalten, möglicherweise stünden seine Protegés nicht mehr hinter ihm. Mögliche Nachfolgekandidaten – Klein nennt Vize-Ministerpräsident Mychajlo Fedorow und Verteidigungsminister Denys Schmyhal – hätten wohl „weniger Interesse an der Macht an sich“. Doch ob so ein größeres Gegengewicht zu Selenskyj und seinem Präsidialamt möglich sei, müsse sich erst zeigen. Oppositionsstimmen forderten zuletzt eine „Regierung der Einheit“ oder gar eine Technokraten-Regierung. „Einen wirklichen Aufbruch, das Ruder jetzt umzureißen – das sehe ich nicht“, urteilt Klein.

Ukraine-Friedensverhandlungen: Jermak-Kritik „hinter vorgehaltener Hand“ – aber auch weitere Gefahren

Ohne Jermak – so geht es bei den Friedensverhandlungen weiter: Auch für die wichtigen Friedensverhandlungen im Ukraine-Krieg sind die Konsequenzen weitreichend. Jermak hatte zuletzt die ukrainische Delegation angeführt. Bei den USA soll er aber etwa wegen seines schlechten Englisch einen schlechten Stand gehabt haben. Auch in der Ukraine habe es „hinter vorgehaltener Hand“ immer wieder Kritik gegeben, sagte Klein. Beispielsweise wegen des Falls Kushner. Übernommen hat nun Rustem Umjerow, der Sekretär des Sicherheits- und Verteidigungsrates. Der genieße „einen guten Ruf als Verhandler“.

Rustem Umjerow (li.) und Andrij Jermak bei der UN-Generalversammlung im September neben Olena Selenska.
Der neue und der alte Chefverhandler: Rustem Umjerow (li.) und Andrij Jermak bei der UN-Generalversammlung im September neben Olena Selenska. © IMAGO/Valery Sharifulin

Im schlimmsten Falle könnte sich der Kreis aber auf unangenehme Weise schließen, wie der Experte andeutet. Denn auch Umjerows Name tauche im Kontext der Korruptionsermittlungen auf: „Sollte auch gegen ihn ermittelt werden, könnte auch er über den Korruptionsskandal stolpern – was die Verhandlungen, die aus ukrainischer Perspektive ja eh schon schwierig laufen, nicht einfacher machen würde.“ Auch Donald Trump hat die Korruptionsmisere schon ins Visier genommen.

Die Ukraine steht also vor Problemen. „Das Vertrauen ist gesunken, die Handlungsfähigkeit geschwächt“, urteilt Klein mit Blick auf Selenskyj. Viele in der Ukraine hätten befürchtet, dass Jermak den Skandal überstehen könnte. Die Erleichterung überwiege nun. Und doch hat Selenskyj in Kleins Augen „zu halbherzig reagiert“. Nicht auszuschließen sei, dass es zu weiteren Enthüllungen kommt –„die das Vertrauen in die Politik und die bröckelnde gesellschaftliche Einheit weiter erodieren würden“. (Quellen: Dr. Eduard Klein, Carnegie Endowment for International Peace, AFP, InfoSapiens/fn)