Toffer statt Koffer: Expertinnen erklären, warum Kinder immer schlechter sprechen

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Je eher Kinder mit Sprachstörungen zu ihnen kommen, desto eher kann man eine Besserung erzielen, wissen Michaela Dreißig (li.) und Eva-Maria Kopp. © Sabine Hermsdorf-Hiss

Immer mehr Kinder können nicht richtig sprechen. Eva-Maria Kopp und Michaela Dreißig von der Logopädischen Praxis Henkel-Morell und Kopp mit Standorten in Geretsried und Wolfratshausen sehen verschiedene Ursachen hinter diesem Trend.

Geretsried/Wolfratshausen – Immer mehr Kinder können nicht richtig sprechen. Das ist das Ergebnis einer Datenauswertung der Kaufmännischen Krankenkasse. Demnach stieg die Zahl der Betroffenen zwischen sechs und 18 Jahren von 2012 auf 2022 um rund 59 Prozent. Bundesweit ist fast jeder zehnte Junge und rund jedes 15. Mädchen davon betroffen. Warum ist das so? Und vor allem: Was kann man dagegen tun? Redakteurin Elena Royer hat mit Eva-Maria Kopp (52), einer staatlich geprüften Logopädin, und Michaela Dreißig (38), akademische Sprachtherapeutin, von der Logopädischen Praxis Henkel-Morell und Kopp mit Standorten in Geretsried und Wolfratshausen gesprochen.

Frau Kopp, Frau Dreißig, stellen Sie bei sich in der Praxis auch fest, dass Kinder immer schlechter sprechen?

Dreißig: Ja. Und das bestätigen auch die Zahlen der Krankenkassen.
Kopp: Was uns auffällt, ist, dass die Kinder immer jünger werden. Viele Kinder fallen um den zweiten Geburtstag herum auf oder stellen sich bei uns vor. Das ist so ein Meilenstein. Eltern merken in dem Alter häufig im Vergleich mit anderen Kindern, dass Auffälligkeiten da sind.

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Sind die meisten Kinder, die zu Ihnen kommen, dann auch in diesem Alter?

Kopp: Der Großteil ist schon etwas älter. Drei bis vier Jahre alt, oder Vorschulkinder. Kurz vor dem Schuleintritt nehmen die Anmeldungen meist zu und der Druck auf die Kinder, dass dann bis zur Einschulung alles „behoben“ ist, wird groß.
Dreißig: Leider wird bei manchen Kindern sehr lange abgewartet. Das kann für manche Kinder belastend sein, wenn sie merken, dass andere Kinder sie nicht richtig verstehen und ihr Störungsbewusstsein zunimmt.
Kopp: Im ungünstigsten Fall kann das mit einem kommunikativen Rückzug einhergehen. Dabei sollte die Freude am Sprechen das höchste Gut sein.

Mit welchen Sprachproblemen kommen die meisten Kinder zu Ihnen in die Praxis?

Kopp: Das sind Sprachentwicklungsstörungen wie zum Beispiel Artikulationsstörungen, Wortschatz-Einschränkungen oder Probleme bei Grammatik und Satzbau. Aber das Spektrum an Sprach- und Sprechstörungen ist natürlich weitaus größer.

Können Sie konkrete Beispiele nennen?

Kopp: Die Verwechslung von K und T etwa. Da wird dann der Koffer zum Toffer, andere Kinder haben Probleme beim Satzbau, wenn sie sagen: Mama Ball spielen. Bei wieder anderen ist der Wortschatz sehr gering. Sie nutzen Stellvertreter-Wörter, zum Beispiel „Mama“ für viele Personen.
Dreißig: Ein Stück weit sind solche Dinge typisch für die Entwicklung. Aber wenn das Kind mit vier Jahren immer noch sagt „Mama Ball spielen“, dann ist das deutlich verzögert.

Also kann man nicht immer sagen: Das wächst sich schon noch raus?

Dreißig: Nein, das kann man so einfach nicht sagen, dass sich die verschiedensten Sprachauffälligkeiten einfach auswachsen. Studien haben gezeigt, dass bei einem Drittel der zweijährigen Kinder mit Sprachstörungen, diese von selbst beheben. Bei den anderen zwei Drittel bleiben Sprachbeeinträchtigungen unterschiedlichster Art und Ausprägung bestehen.

Warum werden Sprachprobleme immer mehr?

Dreißig: Das kann unterschiedliche Gründe haben wie zum Beispiel Hörbeeinträchtigungen durch Infekte, weniger Bewegung und Selbsterfahrung der Kinder.
Kopp: Aber auch ein erhöhter Medienkonsum und das dadurch veränderte Kommunikationsverhalten können eine Rolle spielen.

Wie hängt die Mediennutzung mit Sprache zusammen?

Dreißig: Hier muss man unterscheiden, ob die Medien der Kinder verantwortungsbewusst, zeitlich begrenzt und begleitet oder zu früh, zu häufig und nicht altersgerecht genutzt werden. Je nachdem kann das die Sprachentwicklung und das Kommunikationsverhalten positiv oder negativ beeinflussen.
Kopp: Das betrifft aber nicht nur die Mediennutzung der Kinder, sondern auch die der Eltern, da sie auch eine Vorbildfunktion haben. Wenn sich Eltern zum Beispiel mit ihren Kindern unterhalten und das Handy blinkt, geht der Blick automatisch zum Smartphone. Dadurch kommt es immer wieder zu Kommunikationsabbrüchen.

Einen Fernseher gab es ja früher auch schon. Wieso nehmen Sprachprobleme dann erst jetzt so zu?

Dreißig: Heute sind diese Medien viel mehr im Einsatz. Auf jedem Gerät gibt es bewegte Bilder.
Kopp: Und wir haben eine größere Vielfalt. Alles ist jederzeit verfügbar.

Also hilft nur ein Medienverbot?

Dreißig: Nein. Auch Leitlinien wie „Keine elektronischen Medien unter drei Jahren“ kann man unserer Ansicht nach nicht durchziehen. Stattdessen sollte es Aufgabe der Eltern sein, ihren Kindern einen verantwortungsvollen Umgang mit Medien beizubringen.
Kopp: Das ist der Lauf der Dinge. Aber Eltern sollten die Mediennutzung ihrer Kinder sinnvoll begleiten. Ich kann das Kind nicht komplett raushalten.

Ist Vorlesen die bessere Beschäftigung?

Dreißig: Nicht automatisch. Wir nutzen Medien zum Beispiel auch manchmal in der Therapie. Man kann die Mediennutzung auch so gestalten, dass die Kinder nicht nur berieselt werden, sondern einen Mehrwert dadurch haben, zum Beispiel mit einer Lern-App oder durch das Gestalten gemeinsamer Medienzeit und den Austausch darüber.

Apropos berieseln: Wenn man etwas in Ruhe erledigen will, ist es oft ja der einfachste Weg, das Kind vor den Fernseher zu setzen...

Dreißig: Das kann manchmal auch völlig in Ordnung sein, sollte aber nicht die Dauerlösung sein.

Ist die stärkere Mediennutzung der einzige Grund für die zunehmenden Sprachprobleme?

Dreißig: Nein, dafür gibt es viele Gründe wie zum Beispiel Hörbeeinträchtigungen, weniger Bewegungsinput, verändertes Kommunikationsverhalten und auch die Pandemie hat ihren Teil dazu beigetragen. Durch die verdeckten Gesichter konnte man die Gesichter nicht lesen und die Lippenbewegungen nicht erkennen. Erwachsene können so etwas kompensieren, Kinder unter Umständen nicht. Sie lernen viel durch Vorbilder.
Kopp: Außerdem war die soziale Interaktion stark eingeschränkt, es gab nicht so viel Austausch im Kindergarten, in den Vereinen oder mit Familie und Freunden.

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Bei welchen Anzeichen sollten Eltern hellhörig werden?

Dreißig: Wenn sich Eltern Sorgen machen, dann macht es immer Sinn, genauer hinzuschauen. Zum Beispiel wenn bestimmte Entwicklungsmeilensteine nicht oder stark verzögert erreicht werden.
Kopp: Und wenn Kinder zum Beispiel ein Störungsbewusstsein entwickeln oder ein kommunikativer Rückzug zu beobachten ist. Je eher die Kinder kommen, desto schneller kann man eine Besserung erzielen und Folgeerscheinungen vermeiden.

Können Eltern selbst etwas tun?

Dreißig: Sie können überlegen, was das Kind interessiert und darauf aufbauend gemeinsam eine Kommunikation aufbauen. Viele Situationen sind im Alltag für Erwachsene total banal, für Kinder dagegen ganz tolle Kommunikationsanlässe.
Kopp: Oberste Priorität hat die Sprechfreude. Man sollte sich nicht nur auf die Schwächen und Defizite der Kinder konzentrieren. Sonst gehen Stärken und Ressourcen verloren.

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