„Lage noch dramatischer“: Hungersnot in Gaza – und jetzt fehlt sogar das Trinkwasser
Die humanitäre Lage im Gazastreifen ist katastrophal, warnt das Rote Kreuz. Der Krieg dürfte auch weltweit negative Folgen mit sich bringen.
Christof Johnen ist Leiter Internationale Zusammenarbeit beim Deutschen Roten Kreuz (DRK). Das Hilfswerk hat im Krieg zwischen Israel und der Hamas selbst viel Unterstützung geleistet und arbeitet mit seinen Schwestergesellschaften Roter Halbmond im Gazastreifen und Roter Davidstern in Israel zusammen. Johnen und das DRK ergreifen in Kriegen keine Partei. Das hindert die Organisation aber nicht daran, Brüche des humanitären Völkerrechts anzuprangern, wenn sie diese wahrnehmen.
Herr Johnen, wie ist es gerade um die humanitäre Situation im Gazastreifen bestellt?
Wir haben über mehr als eineinhalb Jahre immer wieder ein wenig Auf und vor allem viel Ab gesehen – die Lage war dabei stets katastrophal. Seit die Grenzübergänge im März für dringend erforderliche humanitäre Hilfsgüter wie Lebensmittel und Medikamente geschlossen und die Kampfhandlungen wieder aufgenommen wurden, ist die Lage aber noch dramatischer geworden.
Israel im Krieg gegen die Hamas: Humanitäre Lage im Gazastreifen katastrophal
Inwiefern?
Die Infrastruktur in der Region ist größtenteils zerstört, im Gazastreifen findet sich kaum noch ein Mensch, der nicht mindestens einmal vertrieben wurde. Die Menschen leben in ständiger Angst und ihre Widerstandsfähigkeit ist am Boden. Fast alle leben auf engstem Raum in Notunterkünften – wobei das Wort zu positiv klingt. Es handelt sich meist um Zelte oder Plastikplanen am Straßenrand. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz betreibt zusammen mit dem DRK und weiteren Partnern ein Feldkrankenhaus in Rafah, in dem schon mehr als 90.000 Menschen behandelt wurden. Auch dort wird klar: Es fehlt an Medikamenten, medizinischem Verbrauchsmaterial sowie in Gaza allgemein an medizinischer Versorgung und die Menschen werden immer häufiger krank.

Unabhängig von Kriegsverletzungen?
Die gibt es natürlich auch, etwa durch Splitter von Explosionen oder Brandverletzungen, die besonders oft Kinder treffen. Immer häufiger gibt es aber Erkrankungen aufgrund der schlechten hygienischen Lage. Sanitäranlagen sind kaum noch vorhanden und die Menschen trinken, was nach unseren Standards niemals als Trinkwasser durchgehen würde.
Den Menschen fehlt es an sauberem Wasser?
Der Gazastreifen liegt an der Küste und der Grundwasserspiegel ist sehr flach. Das Wasser im Boden ist also oft salzig. Das ist für die meisten Küstenregionen eine Herausforderung. Die Entsalzungsanlagen funktionieren nicht mehr oder der Treibstoff fehlt. Auch die Wasserzufuhr aus Pipelines, die aus Israel kommen, ist mittlerweile abgeschnitten. Das Wasser enthält Fäkalkeime und ist durch intensive landwirtschaftliche Düngung der letzten Jahre verseucht.
Kinder im Gazastreifen leiden besonders unter Krieg zwischen Israel und Hamas
Wie sieht es mit den sonstigen Grundbedürfnissen aus?
Viele Erwachsene reduzieren ihre Nahrungsaufnahme, um den Kindern noch genug Essen geben zu können. Das ist Alltag. Wenn ich mit Kolleginnen und Kollegen vor Ort spreche, ist der bewaffnete Konflikt permanent zu hören, etwa durch Drohnen. Das macht etwas mit den Kindern. Die sind entweder völlig überdreht oder sie ziehen sich komplett zurück.

Was muss passieren, um die Notlage zu beenden?
Als Erstes muss wieder humanitäre Hilfe in den Gazastreifen kommen. Und zwar nicht nur für wenige Tage, sondern regelmäßig und im ausreichenden Umfang. Das Zweite ist die Sicherheitssituation der Zivilbevölkerung und der humanitär Helfenden, sie müssen besser geschützt werden. Das ist keine idealisierte Forderung, sondern grundlegendes humanitäres Völkerrecht.
Das Rote Kreuz ergreift in Kriegen keine Partei, sondern hilft in der Not. Dennoch die Frage: Wirkt das für Sie noch wie ein Krieg zwischen Israel und der Hamas?
Wie fast alle bewaffneten Konflikte ist auch dieser leider ein Konflikt, dessen Folgen vor allem die Zivilbevölkerung treffen. Der Schutz der Menschen wird zunehmend hintangestellt und nicht mehr berücksichtigt. Regeln des Völkerrechts, dass militärische Ziele nicht um jeden Preis erreicht werden dürfen, werden immer weiter gedehnt. Das besorgt uns sehr. Denn was gerade im Gazastreifen oder in Israel, in der Ukraine oder dem Sudan passiert, hat im negativen Sinne auch eine Wirkung auf künftige Konflikte. Wenn wir jetzt nicht auf die Einhaltung von Recht pochen, wird es in künftigen Konflikten umso schwerer fallen.