Aktuelle Praxis ist "evident rechtswidrig" - Polen provoziert fiese Asyl-Fragen
Bundesinnenminister Alexander Dobrindt gerät in Erklärungsnot. Der Fall zweier Afghanen stellt das neue Grenzregime auf die Probe und legt das ganze Dilemma für die Bundespolizei offen. Denn selbst nach deutschem Recht könnten Zurückweisungen und Zurückschiebungen rechtswidrig sein, wie ein Rechtsprofessor analysiert – und das schon seit Jahren. Doch der Reihe nach.
Am Montagmorgen greift die deutsche Bundespolizei im brandenburgischen Guben zwei afghanische Männer nur wenige Hundert Meter hinter der polnischen Grenze auf. Sie stellen einen Asylantrag. Der "Spiegel" hat zuerst darüber berichtet, die Bundespolizeidirektion Berlin bestätigt den Fall auf Anfrage von FOCUS online.
Zurückschiebungen bedürfen der Zustimmung des Nachbarlandes
Offenbar handelt es sich nach Einschätzung der Beamten nicht mehr nur um einen Einreiseversuch, sondern um eine erfolgte Einreise. Sie sehen von einer Zurückweisung ab, leiten stattdessen ein Verfahren für die Zurückschiebung ein. „Die Zurückschiebung bedarf, anders als die Zurückweisung, der Zustimmung Polens“, stellt eine Sprecherin der Bundespolizei klar.
Das ist soweit Routine für die Beamten. Doch ein entscheidendes Detail ist anders: Nach der Weisung aus dem Bundesinnenministerium von vergangener Woche soll der Asylantrag der beiden Afghanen keine Rolle mehr spielen.
Dobrindt will europäisches Recht aussetzen und auf das aufwendige Dublin-Verfahren verzichten, um das zuständige Land zu ermitteln. Nach seiner Vorstellung soll sich Polen darum kümmern, weil die beiden Männer von dort nach Deutschland kamen. Das Bundespolizeipräsidium Berlin hat die Beamten ausdrücklich angewiesen, das bei Zurückweisungen ebenso wie bei Zurückschiebungen so zu handhaben, berichtet der "Spiegel". Doch Polen blockt ab.
Polen sperrt sich - mit neuer Begründung
Neu ist auch die Begründung der Polen. Sie verweisen ausdrücklich auf das Dublin-Verfahren, so der "Spiegel". In der Vergangenheit sei von Polen dagegen argumentiert worden, dass eine Einreise aus dem Nachbarland nicht nachgewiesen werden könne.
Die Bundespolizei spricht von Einzelfällen und verweist darauf, dass eine Überstellung nach der Klärung auch zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen könne. Das Ergebnis ist damit jedoch wie vor Dobrindts Weisung: Die beiden Afghanen werden nicht zurück zur Grenze gebracht, sondern in eine Erstaufnahmeeinrichtung nach Eisenhüttenstadt. Sie bleiben erst einmal im Land.
Hinzu kommt der überschaubare Erfolg der verschärften Grenzkontrollen. Dobrindt hob die um 45 Prozent gestiegene Anzahl an Zurückweisungen hervor. In den sieben Tagen nach der Weisung schickte die Bundespolizei 739 Menschen zurück in die Nachbarländer statt 511 in der Vorwoche.
Darunter waren auch 32 Asylsuchende, wobei die Bundespolizei 51 Anträge zählte. Alle anderen konnten bereits vor der Weisung zurückgewiesen werden. Dafür hat der Bundesminister mehr als 3000 Beamte an die deutschen Grenzen geschickt. „Der Aufwand ist exorbitant hoch“, sagt ein Bundespolizist dazu zu FOCUS online.
Der polnische Fall mit den Afghanen wirft weitere Fragen auf
Der polnische Fall mit den Afghanen wirft noch weitere Fragen auf. Während die Bundespolizisten hier weniger als einen Kilometer hinter der Grenze die unerlaubte Einreise als erfolgt betrachteten, sprechen sie in Bayern selbst 7,5 Kilometer nach dem Grenzübergang zu Österreich noch von einer versuchten Einreise.
FOCUS online hat mit mehreren Rechtsexperten gesprochen, die Zurückweisungen an dieser Stelle für rechtswidrig halten. Österreich hat sie bislang offenbar toleriert. Das dortige Innenministerium ließ Fragen dazu unbeantwortet.
Genauso dürften nach Einschätzung von Rechtsexperten auch Zurückweisungen im Zuge der Schleierfahndung rechtswidrig sein. Die Bundespolizei bleibt in ihrer Erklärung dazu erstaunlich vage. An mehreren Stellen verweist ein Sprecher auf Gesetzestexte, Artikel und Paragrafen. Zu den Grenzkontrollen sagt er lediglich: „Dabei gilt die Person bis zum Abschluss der polizeilichen Maßnahmen mit unmittelbarem Grenzbezug als noch nicht eingereist, selbst wenn die Grenzlinie bereits passiert worden sein sollte.“ Die rechtliche Grundlage dafür nennt er nicht und reagiert auch nicht auf die Nachfrage, was ein unmittelbarer Grenzbezug bedeutet.
„Die Weisung des Innenministers und die aktuelle Praxis sind evident rechtswidrig“
Eine Erklärung liefert der Rechtsprofessor Constantin Hruschka im "Verfassungsblog". In einer ausführlichen Analyse der unterschiedlichen Erklärungsstränge von Bundesinnenministerium, Bundeskanzler und Bundespolizei kommt er zum Ergebnis: „Die Weisung des Innenministers und die aktuelle Praxis der Zurückweisungen an den deutschen Binnengrenzen sind evident rechtswidrig.“
Dabei geht es gar nicht nur um die europarechtlichen Bedenken, auf die die Kritiker der Weisung bisher ihr Augenmerk legen und die sie für ausschlaggebend halten. Hruschka argumentiert unter anderem, dass die Zurückweisungen und Zurückschiebungen selbst nach nationalem Recht und den Abkommen mit den Nachbarländern rechtswidrig seien.
Für Asylsuchende müsse auch nach deutschen Gesetzen eine Zuständigkeitsprüfung des Asylantrags erfolgen. Nach einem Gerichtsurteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) dürften Zurückweisungen zudem nur an benannten Grenzübergängen erfolgen, so Hruschka. Deutschland habe jedoch keine Übergänge ausgewiesen. Mobile Grenzübergangsstellen sehe der Schengener Grenzkodex gar nicht vor.
Offenbar gibt es keine zugelassenen Grenzübergangsstellen in Deutschland
Deutsche Gesetze nennen „zugelassene Grenzübergangsstellen“, die das Bundesinnenministerium gemeinsam mit dem Bundesfinanzministerium im "Bundesanzeiger" veröffentlichen muss. FOCUS online hat das Bundesinnenministerium bereits am Montag einen Fragenkatalog, unter anderem zu den zugelassenen Grenzübergangsstellen, geschickt. Trotz mehrfacher Nachfragen reagierte Dobrindts Behörde bis Freitag nicht. Auch Recherchen im "Bundesanzeiger" bleiben ergebnislos: Offenbar gibt es keine zugelassenen Grenzübergangsstellen in Deutschland.
Hier gerät nicht nur als Dobrindt in Erklärungsnot. Denn die ersten Grenzkontrollen wurden bereits 2015/16 wieder eingeführt und unter der Ampelregierung ausgeweitet, um die Asylsuchenden an den Grenzen zu kontrollieren. „Insoweit waren schon die bisher durchgeführten Zurückweisungen und Zurückschiebungen wohl in weiten Teilen rechtswidrig, weil diese meist nicht in einem formalen Verfahren erfolgt sind“, deutet Hruschka einen Rechtsbruch an, der bereits Jahre andauern könnte – und damit von den Vorgängerregierungen eingeleitet worden wäre.
In der Bundespolizei werfen die rechtlichen Bedenken ebenfalls Fragen auf. „Es gibt unendliche Lücken“, sagt ein Bundespolizist zu FOCUS online. Die erhoffte Rechtssicherheit habe Dobrindt nicht geschaffen.
Solange es niemand darauf angelegt habe, sei auch niemand in Erklärungsnot geraten: „Wo kein Kläger, da kein Richter.“ Genau das versuchen Asylrechtsorganisationen aktuell zu ändern, damit die Justiz ein Urteil fällt – und erst einmal Klarheit schafft.