„Frieden und Wohlstand“ statt Klima vorne – sogar bei den Grünen: Wie die Europawahl einen Wandel zeigt

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Bei der Europawahl 2019 Hauptthema, nun eine Randerscheinung: Klimaschutz. Kommt die existenzielle Herausforderung angesichts von Kriegen und Krisen zu kurz?

Berlin – Beim Blick auf die Millionen Wahlplakate im Land fällt eines auf: Inhaltlich ähnliche Schwerpunkte über Parteigrenzen hinweg. Meist ist von Freiheit, Sicherheit und Wohlstand die Rede – egal ob bei Union, SPD oder den Grünen. „Ein starkes Europa bedeutet ein sicheres Deutschland“, heißt es etwa auf einem großen Plakat mit der Grünen-Spitzenkandidatin Terry Reintke. Von Klimaschutz etwa ist eher selten zu lesen. Das Thema wurde regelrecht verdrängt:

„Schon beim Blick auf die Wahlplakate kann die Frage aufkommen, wen ich eigentlich wählen soll – bei allen wird mit Freiheit und Wohlstand geworben“, sagt Funda Tekin, Leiterin des Instituts für Europäische Politik (iep) und Honorarprofessorin an der Universität Tübingen.

Klimaschutz und die Europawahl: Vom Superthema 2019 zur Randerscheinung 2024

Die Politikwissenschaftlerin beobachtet, dass sich die Themen der Wahlwerbung in Deutschland deutlich verschoben haben. „Bei der letzten Europawahl war im Zuge der neuen Fridays-for-Future-Bewegung der Klimaschutz weit vorne, ebenso wie eine proeuropäische Haltung nach dem Brexit“, sagt Tekin.

Terry Reintke, Spitzenkandidatin der Grünen für die Europawahl, setzt auf Wahlplakaten besonders auf Themen wie Sicherheit.
Terry Reintke, Spitzenkandidatin der Grünen für die Europawahl, setzt auf Wahlplakaten besonders auf Themen wie Sicherheit. © IMAGO/Dirk Sattler

Und tatsächlich: Umfragen zufolge stand das Thema Klimaschutz kurz vor der Europawahl 2019 auf Platz eins. Knapp 50 Prozent der Befragten einer Erhebung von Infratest dimap gaben damals an, Klima- und Umweltschutz spielten für ihre Wahlentscheidung die größte Rolle. Von dieser Stimmung haben wohl besonders die Grünen profitiert, sie bekamen in Deutschland über 20 Prozent der Stimmen, legten deutlich zu. Fünf Jahre später ist vom Wahlkampfthema Klimaschutz nicht mehr viel zu sehen.

Europawahl 2024: Wählerinnen und Wähler blicken auf Frieden, Wohlstand und Sicherheit

„Jüngste Umfragen zeigen, dass die Themen Frieden und Wohlstand den Menschen wieder deutlich wichtiger geworden sind, insofern spiegeln die Parteien das wider“, sagt Tekin dazu. In einer wenige Tage vor der Wahl vom Meinungsforschungsinstitut Civey veröffentlichten Umfrage halten die Menschen die Themen Migration und Asyl (49,4 Prozent) sowie Sicherheit und Frieden (18,3) für deutlich wichtiger als Klima und Umwelt (11,3).

Besonders deutlich wird die Verschiebung der Prioritäten bei der klassischen Umweltpartei, den Grünen. „Es geht um Frieden und Wohlstand in Europa“, teilte die Partei zur Verabschiedung ihres Europawahlprogramms mit. Wohlstand, Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit sind die großen Kapitel des Programms. Klimaschutz gehört nicht dazu.

Ukraine-Krieg hat die gesellschaftliche Landschaft verändert – mit Folgen für die Europawahl

Entscheidend dafür sind die Krisen der vergangenen Jahre, meint Politikexpertin Tekin. „Heute ist der Klimaschutz keines der größten Wahlkampfthemen, wir sehen ganz andere Mobilisierungsfaktoren: Der Ukraine-Krieg, welcher sich im Bedürfnis nach Frieden und Sicherheit niederschlägt“, so die Wissenschaftlerin. „Außerdem verstärken die Sekundäreffekte des Krieges – hohe Energiepreise und Inflation – das Bedürfnis nach sozialer Sicherheit.“

Die Grünen selbst sprechen nur indirekt von anderen Prioritäten. „In Zeiten vieler globaler Krisen und Kriege scheinen sich die Ereignisse manchmal zu überlagern“, sagt Emily Büning, politische Geschäftsführerin und damit Wahlkampfmanagerin der Partei IPPEN.MEDIA. Die Politikerin betont aber, dass Klimaschutz gleichbleibend wichtig sei und nicht losgelöst von anderen Themen gedacht werden dürfe: „Dennoch ist und bleibt Klimaschutz eine der großen Herausforderungen unserer Zeit. Eine der größten Gefahren für unsere Sicherheit ist eine außer Kontrolle geratene Klimakrise“, so Büning.

Neben der Sicherheit will die Grüne auch wirtschaftliche Stabilität sowie das Ziel der Klimaneutralität miteinander verbinden. „Wenn wir in grünen Stahl und Wasserstoff investieren, schaffen wir die Arbeitsplätze der Zukunft, mit Naturschutz und Renaturierung bewältigen wir auch Hochwasser.“

Rechtsruck macht sich schon jetzt in Europa-Politik bemerkbar

Ob die Verlagerung der Prioritäten zu mehr sicherheitspolitischen Interessen dauerhaft ist, komme auf die Entwicklung der Krisenlage an, sagt Expertin Tekin. „Unter gleichenbleibenden Voraussetzungen schon“, so die iep-Leiterin. „Aber das kann sich auch schnell ändern. Es braucht nur einen anderen Mobilisierungsfaktor für die Menschen und Themen wie der Klimaschutz könnten den Menschen wieder wichtiger werden.”

Momentan gehe die Entwicklung angesichts stärker werdender rechter Parteien in der EU aber in eine ganz andere Richtung, sagt Tekin: „Man spürt den Einfluss des europäischen Rechtsrucks im Europäischen Parlament, aber auch im Rat. Das zeigt sich in der Klimapolitik, der Asyl- und Migrationspolitik, aber auch der Haltung zur Ukraine und Russland“. Die Expertin verweist besonders auf die stärkste Fraktion, die Konservativen: „Die EVP öffnet sich nach rechts und zeichnet rechte Rhetorik und Entscheidungen nach.“

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