Fit für Putin: Finnen lehren die Nato Luftverteidigung von jeder denkbaren Piste aus
„Agile Combat Employment“ heißt das neue Nato-Konzept: Überraschendes Auf- und Abtauchen der Kampfjets. Außer im Norden ist das aber blanke Theorie.
Tikkakosti – „Moderne Systeme sind komplex, teuer, leicht zu beschädigen und in fast allen Fällen nicht einfach oder schnell zu ersetzen“, schreibt Isaiah Oppelaar. Im Journal of the JAPCC (Joint Air Power Competence Centre) hat der Oberstleutnant angeregt, dass nicht zuletzt der Ukraine-Krieg neue Anforderungen an die Organisation der Luftwaffe stelle. Im Gegensatz zum Zweiten Weltkrieg seien Konzentrationen von Flugzeugen und deren Infrastruktur künftig durch Wladimir Putins Invasionsarmee leicht zu identifizieren und vergleichsweise einfach zu neutralisieren. Dagegen will sich die Nato wappnen – und schmeißt alte Konzepte über den Haufen.
Die geschätzten Kosten einer F-35 von durchaus 100 Millionen US-Dollar pro Stück oder von bis zu 300 Millionen für eine F-47, die US-Präsident Donald Trump gerade bauen lässt, sind zu hoch, um sie in einem Krieg einem hohen Risiko auszusetzen. „Baana 25“ soll helfen, Flugzeuge flexibler einsetzbar zu machen und leichter verschwinden zu lassen – beziehungsweise deren Piloten darauf zu trainieren. Die finnische Luftwaffe startete am 26. Mai die diesjährige Ausgabe ihrer „Baana“-Übung und nahm den Flugbetrieb von einem für den zivilen Verkehr gesperrten Abschnitt der Autobahn E75 in der Nähe von Tikkakoski auf, wie das Magazin AeroTime meldet.
Nato-Drill: Auch Deutschland hat das Abheben und Aufsetzen zwischen Kiefern, Fichten und Birken geprobt
Geübt wurde auf einem gesperrten Abschnitt zwischen den Anschlussstellen Puuppola und Vehniä in Mittelfinnland, um finnischen F/A-18 Hornets und niederländischen F-35A Lightning II-Kampfjets die Straße als provisorische Landebahn zu eröffnen. Wie bfbs Forces News meldete, seien die Niederländer erstmalig an dieser Übung beteiligt gewesen; im vergangenen Jahr hatte Deutschland erstmals das Abheben und Aufsetzen zwischen Kiefern, Fichten und Birken geprobt. Was offenbar dringend geboten erscheint. Das Umnutzen ziviler Verkehrswege war während des Kalten Krieges Teil der militärischen Strategie im Westen, geriet aber eher in den Hintergrund praktischer Überlegungen, bis dieses Thema durch den Ukraine-Krieg wieder überlebensnotwendig erschien.
„Wir trainieren, wie man in einer Situation unter ständiger Überwachung und kinetischer Bedrohung kämpft. Unser Ziel ist nicht nur das Überleben, sondern der Kampf. Wir setzen nicht alles auf eine Karte. Wir wollen nicht dort sein, wo der Feind uns vermutet.
„In Schweden wissen Piloten, wie man Gripen-Flugzeuge auf Feldwegen landet und im Wald versteckt. Der Rest der Nato sollte aufholen“, fordert beispielsweise Elisabeth Braw. Laut der Analystin des britischen Thinktanks Royal United Services Institute (RUSI) fürchte die Nato aufgrund Wladimir Putins Offensivkurs, dass ihre Luftwaffenstützpunkte in Gefahr ins Visier der Russen und damit in Gefahr gerieten. Ihrer Ansicht nach sei der jüngste Nato-Partner Schweden innerhalb des nordatlantischen Verteidigungsbündnisses neben den ähnlich denkenden Finnen das einige Land, dass darauf vorbereitet sei, dass die eigene Luftwaffe eine schmale Silhouette gegen feindliche Luftschläge biete.
Wie Braw aktuell im Magazin Foreign Policy schreibt, verfügen die beiden skandinavischen Länder über ein ausgedehntes Straßennetz, das für militärische Luftoperationen geeignet ist. „Auch Flugzeuge können auf solchen Straßen landen und starten – und Offiziere und Soldaten sind in der Lage, die Flugzeuge innerhalb von Minuten zu warten und zu verlegen. Da die westliche Lufthoheit nicht mehr gewährleistet ist, können andere Nato-Mitglieder von Schwedens Mehrzweckstraßen lernen“, schreibt sie. Dazu dient der „Braana“-Drill.
Umdenken wegen Putin: „Agile Combat Employment“ soll Überlebenschancen von Kampfflugzeugen erhöhen
„Die Möglichkeit, von unseren finnischen Kollegen zu lernen, verbessert unsere Fähigkeit, Luftstreitkräfte von unkonventionellen Standorten aus schnell einzusetzen“, sagt James Hecker. Der kommandierende General der US Air Forces in Europe berichtete im Defense Express darüber, wie Nato-Kampfjets Ende 2024 auf einer Autobahn nahe Ranua im Norden Finnlands gestartet und gelandet waren. In Finnland gehöre die behelfsweise Nutzung der Verkehrswege zur Pilotenausbildung, in Deutschland sei das zuletzt in den 1980er-Jahren trainiert worden, weil sich die Anzahl der Flugplätze erhöhte und gleichzeitig die Gefahr einer militärischen Eskalation minimierte. Die Reaktivierung einstiger „Notlandeplätze“ stünde aber wieder zur Diskussion, schreibt die Bundeswehr.
Auch die US-Luftwaffe hat in den vergangenen zwei Jahren vertieft zu überlegen begonnen, wie Wladimir Putins außenpolitischer Aggressivität effizient zu begegnen sei. Wie der US-Thinktank RAND im Dezember 2023 zusammengefasst hat, wolle die US-Luftwaffe mit dem operativen Konzept „Agile Combat Employment“ (ACE) sowohl die Überlebenschancen als auch die Effektivität von Kampfflugzeugen erhöhen durch die „Kombination aus verteilter Stationierung, minimalem Platzbedarf und schnellen und unvorhersehbaren Bewegungen“, wie RAND schreibt.
In der Praxis würden kleine Teams von Piloten auf abgelegenen Luftwaffenstützpunkten stationiert, um Kampfflugzeuge zu starten, zu bergen und zu warten. „Baana“ verfolgt ein ähnliches Konzept. Wie die britische Times schreibt, verfeinere die finnische Luftwaffe seit den 1960er-Jahren ihre Taktik, eine Hauptverkehrsstraße in eine militärische Start- und Landebahn umzufunktionieren, um in einem Konflikt flexibler handeln zu können – das übten die Finnen auch jährlich zwei Mal, damit ihre Kampfjet-Piloten das Starten und Landen auf Autobahnen in Fleisch und Blut übergeht; wie Times-Autor Bruno Waterfield schreibt, hätten die in diesem Jahr teilnehmenden Niederländer eine ähnliche Übung zuhause vor zuletzt 41 Jahren absolviert.
Finnland wird Nato-Mentor: „Unser Ziel ist nicht nur das Überleben, sondern der Kampf“
„Wir trainieren, wie man in einer Situation unter ständiger Überwachung und kinetischer Bedrohung kämpft. Unser Ziel ist nicht nur das Überleben, sondern der Kampf. Wir setzen nicht alles auf eine Karte. Wir wollen nicht dort sein, wo der Feind uns vermutet. Trainieren, trainieren, trainieren und trainieren“, sagt Sami Nenonen gegenüber der Times. Die Finnen sind gegen die Russen der einzige Nato-Partner mit belastbarer Kampferfahrung – und werden dadurch zu den Mentoren der Nato, wie der Übungsleiter und stellvertretende Kommandant der finnischen Luftwaffenakademie auf dem Flugplatz Tikkakoski gegenüber dem britischen Blatt nahelegt.
An ihren beiden Verbündeten wollen die Nato-Länder ihre neuen Doktrinen ausrichten: „Die meisten modernen alliierten Flugzeuge können nicht mehr so mühelos wie früher irgendwo auf einer Autobahn landen, auftanken, neu bewaffnen, vielleicht ein paar Einschusslöcher flicken und den Kampf wieder aufnehmen“, schreibt Isaiah Oppelaar. Schon die Diskussion um die F-16 für die Ukraine beinhaltete die Kritik, dass die Maschine angewiesen ist auf eine glattgebügelte Rollbahn, auf der ihren Lufteinlässen nicht einmal ein herumliegender Stein gefährlich werden könnte. Immer wieder wurde dagegen hervorgehoben, dass eine schwedische Saab Gripen viel besser für schwieriges Terrain geeignet gewesen wäre.
Schweden war sich viel deutlicher als andere Länder einer Gefahr durch damalige sowjetische Aufklärung bewusst, wie Elisabeth Braw deutlich macht. Ihre Luftwaffe musste also überraschender auf- und effektiver abtauchen können. „Die Idee war, die Flugzeuge schneller zu bewegen, als die Sowjets sie überwachen konnten“, zitiert sie Oberst Carl Bergqvist. „Die Luftwaffe benutzte ständig andere Parkplätze, damit die Sowjets nicht wussten, wo sich die Flugzeuge befanden,“ so der Kampfpilot und aktuelle Planungschef der schwedischen Luftwaffe.
Schutz vor Russlands Aggressivität: Nato trainiert „eine Haltung, die die Verluste vor Ort minimiert“
Wie Braw ausführt, nutzte Schweden neben den „normalerweise etwa 800 Meter langen Autobahnlandebahnen“ ein „ausgeklügeltes System mehrerer kürzere Verbindungsstraßen“, um sich in Postion zu bringen, oder zu einer der vielen versteckten Flugzeugparkplätze zu verlegen. Dort seien die Maschinen gewartet worden „von ähnlich flinken Besatzungen, die normalerweise nur aus einem Offizier und einer Handvoll Wehrpflichtigen bestanden“, so Braw in ihrer Analyse. Diese Fähigkeit ist den übrigen Nato-Ländern nach dem Kalten Krieg offenbar verloren gegangen, beziehungsweise verlangen die modernen Maschinen eine Vielzahl an Spezialisten neben erfahrenen Piloten, die Holperpisten meistern könnten – das agile Konzept benötigt daneben Mechaniker, die multipel einsetzbar sind, damit die Teams überschaubar bleiben.
Kritisch formuliert, haben die Nato-Länder im Ukraine-Krieg gelernt, dass sie sich mit ihrem Hightech-Hype gegenüber Russland womöglich in eine nachteilige Position manövriert haben. Krieg scheint nach wie vor auf der Straße ausgefochten zu werden anstatt in einem von Computern beherrschten Lagezentrum, wie Isaiah Oppelaar klarstellt: „Die daraus resultierende Verwundbarkeit und die fortwährende Notwendigkeit, das Überleben und den Schutz aller Waffensysteme der Alliierten während der Feindseligkeiten sicherzustellen, erfordern eine Haltung, die die Verluste vor Ort minimiert.“