Gastkommentar von Gabor Steingart - Allein unter Wölfen: Deutschland hält an schöner Idee fest – aber vereinsamt damit

Der „ästhetische Staat“ von Friedrich Schiller ist dem Wort nach vergessen und dem Wesen nach weiter wirkmächtig – zumindest in Deutschland. Schiller skizzierte die Utopie eines Gemeinwesens, in dem „an die Stelle der Sitten die Sittlichkeit“ treten würde. Befeuert von der Französischen Revolution übertrug er seinen Idealismus („Es ist der Geist, der sich den Körper baut“) auf den zu schaffenden Idealstaat.

Dieser sollte den Menschen von der Kreatur zum Citoyen erhöhen, ihn auch im Wirtschaftsleben nicht länger erniedrigen und ausbeuten, sondern ihn, um mit dem großen deutschen Dichter zu sprechen, durch die „Immunität von der Willkür“ zur „Veredlung“ zu bringen. Dialog statt Diktat. Freiheit statt Folter. Rücksicht statt Raubbau, auch gegenüber der Natur.

Soziale Marktwirtschaft: Deutschland vereinsamt international

Dieser ästhetische Staat wurde nach dem Zivilisationsbruch des Zweiten Weltkrieges das neue westdeutsche Leitbild. Generationen von Politikern, Gewerkschaftsführern und Unternehmern versuchen seither dem Staat das Autoritäre und dem Kapitalismus das Wölfische auszutreiben:

Kündigungsschutz. Tarifautonomie. Mitbestimmung. 35-Stunden-Woche. Mindestlohn. Dynamische Rente. Erziehungsurlaub. Elterngeld. Frauenquote. Diversity-Index. Klimaschutz. Biodiversität. Nachhaltigkeitszertifikat. Lieferkettengesetz.

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Das Deutschland der sozialen und ökologischen Marktwirtschaft lebt, aber es lebt mittlerweile ein Leben in der Vereinsamung. In China sowieso, aber auch in Indien und neuerdings in den USA betet man zu anderen Göttern. Schillers ästhetischer Staat besitzt keine Freunde mehr.

Das Soziale und Ökologische wird weltweit rückabgewickelt: Politischer Nationalismus und ökonomischer Egoismus reichen sich die Hand. Oder anders ausgedrückt: Das Wölfische kehrt in unsere Gesellschaft zurück.

#1 Wachstum um jeden Preis

Mit knapp 1,5 Milliarden Menschen ist Indien die größte Demokratie der Welt. Das bedeutet jedoch nicht, dass man sich dem Rechtsstaat und den Menschenrechten verschrieben hätte. Putin wird für seinen Ukraine-Überfall vom Westen bestraft und von Indien hofiert. Als der Westen das russische Öl abbestellte, war man in Indien nicht traurig, sondern hellhörig.

Das europäische Ölembargo vom 5. Dezember 2022 nutzte Indien, um sich Putin als Ersatzkunde anzudienen. Heute ist Indien nach China der zweitgrößte Importeur von russischem Öl. India first!

#2 Hauptsache billig

Weltweit wird China für sein rasantes Wachstum bewundert. Das Geheimnis dieses Erfolgs liegt auch in der Suspendierung westlicher Werte. Es gibt keine unabhängigen Gewerkschaften und keinen Rechtsstaat, der das Individuum vor politischer oder wirtschaftlicher Willkür schützt.

Wer nicht spurt, wird in ein Arbeitslager eingewiesen. Der Staat beobachtet seine Bürger, die mit der Geburt das Recht auf ihre persönlichen Daten verwirkt haben. In Europa besitzt jeder Haushund mehr Rechte als in China ein Industriearbeiter.

#3 Gewinn zuerst, Vielfalt später

Die Vielfalt der Gesellschaft sollte sich auch in den Firmen widerspiegeln. Das war die Idee von Diversity. Die Unsichtbaren sollten sichtbar werden. Die Marginalisierten dieser Erde, vom körperlich Behinderten bis zur sexuellen Minderheit, sollten nicht länger die Ignoranz der Mehrheitsgesellschaft erfahren, sondern ihre Selbstwirksamkeit.

Mit dem Wahlsieg von Trump verabschieden sich große US-Firmen grußlos von ihren Diversityprogrammen. McDonald's, Ford, Walmart und die Baumarktkette Lowe’s wollen das Reporting über Integrationserfolge von Minderheiten einstellen. Disney streicht den Dialog über eine Transgender-Figur aus dem Pixar-Film „Win or Lose“, um das heikle Thema kommunikativ den Eltern zu überlassen.

#4 Das Geschäft mit der Lüge

Mark Zuckerberg verkündete Anfang der Woche, die professionelle Faktenprüfung von Inhalten auf allen Meta-Plattformen in den USA werde abgeschafft. Wahrheiten, Halbwahrheiten und Unwahrheiten dürfen künftig ungeniert verbreitet werden.

Zuckerberg scheut sich nicht, diese Neudefinition von Meinungsfreiheit auf den Wahlsieg der Trump-Republikaner zurückzuführen. In seiner Videoansprache sagte er am Dienstag: „Die jüngsten Wahlen fühlen sich an wie ein kultureller Wendepunkt, bei dem die Sprache wieder an erster Stelle steht.“

#5 Klimaschutz nach Kassenlage

Das bislang größte Klimabündnis der Bankenbranche ist neuerdings eine Hülle ohne Inhalt. Mit JP Morgan Chase ist diese Woche die letzte große US-Bank aus der „Net Zero Banking Alliance“ ausgeschieden, die sich dem Ziel einer klimabewussten Kreditvergabe verschrieben hatte.

Bereits im Dezember hatten Citigroup, Bank of America, Goldman Sachs und Wells Fargo die Allianz verlassen. Im Januar folgte Morgan Stanley.

 

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Fazit: Schiller war Idealist, aber nicht naiv. Er ahnte, dass „die Humanität eine Unterdrückung erfährt“, wenn die Interessen sich gegen sie zur Wehr setzen. Das Besondere: Er riet nicht zur Verzweiflung, sondern warb um Nachsicht, weil der Mensch ein Mensch sei. Niemand, so Schiller, könne uns „vor einem gewissen Überrest von Wildheit und Härte bewahren“.