Neuer russischer Vorstoß bei Charkiw – Ukraine gerät in die Defensive
Die ukrainischen Streitkräfte stehen vor einer kritischen Situation. Russlands Offensive im Nordosten der Ukraine zwingt sie zu strategischen Rückzügen.
Charkiw – Die Situation im Nordosten der Ukraine wird für die ukrainischen Verteidiger immer brenzliger. Bei der neuen Offensive der russischen Invasionstruppen geraten Kiews Streitkräfte in der grenznahen Kleinstadt Wowtschansk im Nordosten nach eigenen Angaben zunehmend unter Druck. „Die Lage ist äußerst schwierig“, erklärte der örtliche Polizeichef Olexij Charkiwskyj auf Facebook.
Russische Truppen hätten Stellungen in den Straßen der Stadt bezogen. Die Kämpfe seien heftig. Am Dienstag (14. Mai) hatte die Militärverwaltung erklärt, kleine Gruppen russischer Soldaten versuchten, von den Vororten aus in die fast vollständig zerstörte Stadt einzudringen. Die ukrainischen Truppen hätten sich in der Gegend etwas zurückgezogen, um Verluste angesichts des feindlichen Beschusses und der Sturmangriffe zu vermeiden. Russland hatte Ende der vergangenen Woche eine neue Offensive in der Region Charkiw im Nordosten der Ukraine begonnen und nach eigenen Angaben bereits mehrere Dörfer erobert.
Russland startet neue Offensive: Situation in Charkiw unterschiedlich bewertet
Während Kyrylo Budanow, der Chef des Kiewer Militärgeheimdienstes, davor warnt, dass sich die Kämpfe zwischen russischen und ukrainischen Truppen in der nordöstlichen Region Charkiw „auf eine kritische Situation zubewegen“, zeichnen die ukrainischen Streitkräfte das Bild einer heftigen, aber kontrollierten Frontsituation.

„Die Situation ist nicht kritisch“, sagte Oberstleutnant Nasar Woloschyn, Sprecher der Chortyzja-Gruppe der ukrainischen Streitkräfte, die im Osten und Nordosten der Ukraine kämpfen, am Dienstag gegenüber Newsweek, fügte aber hinzu, dass die Kämpfe „kompliziert sind und sich dynamisch verändern“. Andere ukrainische Stimmen äußern sich allerdings pessimistischer. Budanow sagte am Montag, dass sich die Lage in Charkiw mit jeder Stunde dem „kritischen Zustand“ nähere. „Die Situation steht auf der Kippe“, so Budanow zur New York Times.
Region Charkiw ständig bombadiert
Russische Truppen haben am vergangenen Freitag eine neue Front im Nordosten der Ukraine eröffnet und sind in einer breiten Offensive über die Grenze geströmt, nachdem sie sich monatelang weiter südlich, in der östlichen Region Donezk, konzentriert hatten. Das Moskauer Verteidigungsministerium teilte mit, dass russische Streitkräfte mehrere Grenzdörfer in der Region Charkiw unter ihre Kontrolle gebracht haben. Dazu gehört seit Dienstag auch Buhruvatka, eine Siedlung westlich der Stadt Wowtschansk, die etwa fünf Kilometer von der Grenze entfernt liegt.
Nach Angaben ukrainischer Behörden wird Wowtschansk ständig bombardiert. Das ukrainische Militär erklärte dazu, dass die Streitkräfte der Verteidiger im Norden der Stadt gegen russische Soldaten kämpften. Tausende von Menschen sind seit Freitag aus dem Grenzgebiet geflohen.
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Moskau versucht, in einigen Dörfern in Charkiw „Fuß zu fassen“, und hofft, Siedlungen zu umgehen, um schnell vorzudringen, so Woloschyn. Die Ukraine kontert, indem sie in großem Umfang Drohnen einsetzt. Ziel ist es, die ohnehin knappen Ressourcen der Verteidiger im Ukraine-Krieg aufzuteilen, sagte ein Militärsprecher in Kiew. Kurz nach Beginn der russischen Offensive im Nordosten erklärte die Ukraine, dass sie rasch Truppen in die Grenzgebiete verlegen werde.
Ukraine zieht sich aus Dörfern um Charkiw zurück
Russland arbeite daran, die Ukraine daran zu hindern, ihre östlichen und südlichen Stellungen zu verstärken, sagte Woloschyn. Russische Angriffe über die Frontlinie weg von Charkiw haben zugenommen, so seine Einschätzung. „Alle unsere Kräfte sind entweder hier oder in Tschassiw Jar. Leider haben wir keine weiteren Reservisten.“
Der News-Ticker
Über die aktuelle Lage an der Front informieren wir in unserem News-Ticker zum Ukraine-Krieg.
Als Folge der russischen Offensive zieht sich das ukrainische Militär nach eigenen Angaben aus einigen Dörfern in der Region Charkiw weiter zurück. In einigen Gebieten um die Orte Lukjanzi und Wowtschansk hätten sich Einheiten als Reaktion auf feindlichen Beschuss und Angriffe von Bodentruppen „auf günstigere Positionen begeben“, teilte die ukrainische Armee in der Nacht zum Mittwoch mit. Dadurch solle „das Leben unserer Soldaten“ gerettet und Verluste vermieden werden.
Auch um die Orte Lukjanzi und Wowtschansk wurde erbittert gekämpft. Beide liegen rund 30 Kilometer voneinander entfernt und befinden sich nahe der russischen Grenze. Angesichts der Lage sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj einen für Freitag geplanten Besuch in Spanien ab. (skr)