„Wir müssen wach bleiben“

  1. Startseite
  2. Kultur

KommentareDrucken

Regisseur RP Kahl über sein monumentales Holocaust-Kinodrama „Die Ermittlung – ein Oratorium in 11 Gesängen“ (Kinostart am 25.7.2024) und warum wir nicht vergessen dürfen.

Szene aus „Die Ermittlung“ mit Schauspielerin Christiane Paul als Auschwitz-Zeugin. © Leonine

Es ist ein monumentales Werk, das Regisseur Rolf Peter Kahl (53) da ins Kino wuchtet. Wie ein zu großes Klavier, das durch die Tür muss. Kantig, sperrig, schwer – aber einmal aufgestellt, trifft es auf wundersame Weise den richtigen Ton. „Die Ermittlung. Ein Oratorium in 11 Gesängen“ basiert auf dem ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963-1965) und versammelt einen Richter, einen Verteidiger, einen Ankläger, 39 Zeugen und 18 Angeklagte in einem Saal. Am Donnerstag, den 25. Juli, kommt das Gerichtsdrama, das die Gräueltaten im Konzentrationslager Auschwitz verhandelt, in die Kinos. Uraufführung feierte das vierstündige Werk auf dem Münchner Filmfest, wo wir Regisseur RP Kahl (wie er sich nennt) zum Interview trafen.

Will, dass die Zuschauer mitgehen und sich nicht an der Hand führen lassen: Regisseur RP Kahl.
Will, dass die Zuschauer mitgehen und sich nicht an der Hand führen lassen: Regisseur RP Kahl. © Sammy Hart

Das Auschwitz-Oratorium „Die Ermittlung“ des Dramatikers Peter Weiss wurde 1965 als dokumentarisches Theaterstück uraufgeführt. Wie kommt man auf die Idee, dass dieses Werk auch im Kino funktionieren könnte?

Meine war es nicht. (Lacht.) Der Produzent Alexander van Dülmen hat das Stück als junger Mann gelesen und war davon sehr bewegt. Irgendwann fiel es ihm wieder in die Hände und weckte in ihm die Lust auf dieses Projekt. Uns hat sehr gefallen, dass die Opfer im Mittelpunkt stehen, ohne dabei in ihre Opferrolle zurückgedrängt zu werden. Sie können über das, was passiert ist, sachlich berichten und dabei eine erhabenere Haltung einnehmen.

Die Zeugenaussagen über das Grauen in Auschwitz werden mit großer Nüchternheit vorgetragen. Warum machen Sie es dem Zuschauer so schwer, sich emotional zu verbinden?

Das war von Anfang an unser Konzept, dass wir die Figuren nicht noch mit zusätzlichen Emotionen beladen, sondern ihnen eine gewisse Sachlichkeit geben. Emotionen machen es dem Zuschauer zwar leichter, weil er weiß, wie er reagieren soll. Dabei wird aber oft der Blick auf den Menschen und seine Geschichte verstellt. Unsere Erzählweise soll es jedem ermöglichen, selbst zu entscheiden, wie viel Gefühl er wann an sich heranlassen will. So kann man mitgehen, statt an der Hand geführt zu werden.

Sie haben nicht nur Regie geführt, sondern auch das Drehbuch geschrieben – inwiefern haben Sie in den Originaltext eingegriffen?

Gar nicht. Der Text ist genau derselbe. Was ich aber verändert habe: Im Stück von Peter Weiss gibt es neun Zeugenfiguren, die immer wieder auftreten und unterschiedliche Menschen spielen. Für einen Film hätte ich das falsch gefunden. Das wäre eine zusätzliche künstlerische Überhöhung gewesen, die im Kino keinen Sinn ergibt. Deshalb habe ich aus den neun Zeugenfiguren 39 gemacht. Es ist Fiktion, was wir erleben, aber aufbauend auf dokumentarischem Material aus den Auschwitzprozessen.

Die Angeklagten im Rücken: Peter Lohmeyer (rechts) spielt in „Die Ermittlung“ einen der Zeugen, die das Konzentrationslager Auschwitz überlebt haben.
Die Angeklagten im Rücken: Peter Lohmeyer (rechts) spielt in „Die Ermittlung“ einen der Zeugen, die das Konzentrationslager Auschwitz überlebt haben. © Leonine

Der komplette Film, der von insgesamt 60 Schauspielern getragen wird, spielt in einer einzigen Kulisse, deutlich erkennbar als Studioset. Gefilmt wird aus unterschiedlichen Kameraperspektiven. Wie war die Umsetzung?

Unglaublich aufregend, weil wir etwas völlig Neues ausprobiert und verschiedene Arbeitsweisen kombiniert haben. Es ist eine Mischung aus: wie man Kino aufnimmt, wie man im Theater arbeitet und wie man Studioproduktionen im Fernsehen realisiert. Und so haben wir auch das Team zusammengestellt. Wir hatten Mitarbeiter von „The Voice of Germany“, Ausstatter und Kostümbildner von der Oper, Kamera und Licht kamen aus dem Showbereich, und die Cutter waren erfahrene Kinoleute. Wir haben drei Wochen intensiv geprobt und sind dann ins Studio gegangen. Fünf Tage wurde mit acht Kameras gedreht. Ich war wie ein Studioregisseur, der vor acht Bildschirmen sitzt und darauf vertrauen muss, dass das Räderwerk gut funktioniert.

Der Münchner Schauspieler Rainer Bock spielt in „Die Ermittlung“ den Richter.
Der Münchner Schauspieler Rainer Bock spielt in „Die Ermittlung“ den Richter. © Leonine

Die elf Kapitel dieses Oratoriums, das weitgehend auf Filmmusik verzichtet, begleiten das Publikum von der Ankunftsrampe im Konzentrationslager Auschwitz bis zum „Gesang von den Öfen“ – mit welchem Gefühl hoffen Sie die Besucherinnen und Besucher aus dem Kino zu entlassen?

Ich stelle es jedem Zuschauenden frei, sich sein eigenes Bild zu machen. Es gibt keinen didaktischen Ansatz, keine Empfehlung, wie man den Film zu interpretieren hat. Ich weiß, dass diese vier Stunden anstrengend sind und Durchhaltevermögen erfordern. Aber es würde mich schon sehr freuen, wenn die Leute ins Nachdenken kommen über die Verantwortung, die jeder Einzelne in unserer Gesellschaft übernimmt, über die Frage, wie wichtig einem Begriffe wie Demokratie und Rechtsstaat sind. Mich hat die Beschäftigung mit dem Film verändert.

Inwiefern?

Ich weiß, das klingt widersinnig. Sich zwei Jahre mit dem Grauen von Auschwitz auseinanderzusetzen, ist nicht unbedingt das, was man sich wünscht, aber am Ende hat mir das Kraft gegeben. Nie zuvor habe ich so klar gespürt, wie stark meine Haltung zur Demokratie ist, mein Wunsch nach Liberalismus. Ich konnte mir selbst immer wieder bestätigen: Ja, das ist es, was ich wichtig finde, wofür ich kämpfen will.

„Die Ermittlung“ sei „ein eindringlicher Beitrag zur Erinnerungskultur“, hieß es bei der Uraufführung auf dem Filmfest. Aber wer, außer denen, die ohnehin interessiert sind, soll sich diesen vierstündigen Film anschauen?

Hoffentlich alle! Mir ist klar, dass sich unser Sehverhalten stark verändert hat. Deshalb wird es den Film auch zusätzlich in einer etwas kürzeren Kinofassung von drei Stunden geben. Der Produzent Alexander van Dülmen und die beteiligten Fernsehsender beraten gerade alternative Versionen für Arte und die ARD-Mediathek, da ist auch eine Serienfassung denkbar. Dafür bin ich sehr dankbar. Ich glaube, dass man auch einzelne „Gesänge“ für den Schulunterricht herausnehmen kann, um anhand der Figuren dieses wirklich perfide System zu diskutieren. Die unterschiedlichen Ausspielwege sind ein Geschenk und gerade bei diesem Projekt so wichtig, damit möglichst viele Menschen lange Zeit „Die Ermittlung“ sehen können.

Bestenfalls mit welcher Erkenntnis?

Dass Erinnerungsarbeit nichts Statisches ist. Sie muss sich vielleicht immer wieder neu erfinden, um uns wach zu halten. Noch wichtiger aber ist für mich, dass man begreift, wie sehr die Geschichte in die Gegenwart strahlt. Wenn eine Gesellschaft gemeinsam an der falschen Ecke abbiegt nach dem Motto „Ein bisschen Totalitarismus ist schon okay, dann läuft’s besser und wir sind unter uns“ ist das brandgefährlich.

Auch interessant

Kommentare