Eigentlich ist die Sache im doppelten Sinn ganz einfach: Der Bundestag verabschiedet ein Gesetz, wenn mehr Abgeordnete dafür stimmen als dagegen – eine simple Regel, die sich einfache Mehrheit nennt. In den allermeisten Fällen ist das eine Selbstverständlichkeit, die keiner Erwähnung wert ist.
Beim Renten-Paket von Arbeitsministerin Bärbel Bas gibt es vor der Abstimmung am Freitag aber gar nicht so einfache Rechenspiele, ob und wie diese Mehrheit zustande kommen könnte. Im Wesentlichen geht es dabei immer um eine Frage: Wie groß ist der Widerstand der Jungen Gruppe in der Unionsfraktion gegen ein nach 2031 leicht höheres Renten-Niveau, das mit Milliarden-Mehrkosten verbunden wäre?
Klarheit darüber hat auch die Fraktionssitzung der Union am Dienstag nicht gebracht. Und bis zum letzten Moment vor dem Einwurf der Stimmkarten am Freitag gibt es Unwägbarkeiten für Kanzler Friedrich Merz und Fraktionschef Jens Spahn. Eine Reihe von Szenarien ist denkbar. Ein Überblick:
Szenario 1: Die Renten-Rebellen beugen sich dem Druck
Das für die Bundesregierung angenehmste Szenario wäre es, wenn alles seinen gewohnten Weg geht. Im parlamentarischen Prozess ist es üblicherweise so, dass in einer Bundestagsfraktion zwar auch mal heftige Diskussionen über Gesetze stattfinden können. Am Ende stimmen dann aber alle Abgeordneten geschlossen ab, und zwar so, wie die Mehrheit der Fraktion zu dem Gesetz steht.
Anders wäre eine Koalitionsregierung auch kaum zu organisieren. Die sogenannte Fraktionsdisziplin schafft Verlässlichkeit. Weil aber im Grundgesetz steht, dass Abgeordnete "an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen" sind, ist das Vorgehen eben kein verpflichtendes, es gibt keinen echten Fraktionszwang.
Dennoch ist es möglich, dass ein Großteil der Renten-Rebellen am Freitag für das Gesetz stimmen wird. Trotz des grundgesetzlich verbrieften freien Mandats hat die Fraktionsführung, in diesem Fall Spahn und sein Parlamentarischer Geschäftsführer Steffen Bilger, die Möglichkeit, Druck auszuüben. So berichten manche Abgeordnete, ihnen sei bei "Beichtstuhlgesprächen" mit Konsequenzen, zum Beispiel bei der Listenaufstellung bei künftigen Wahlen, gedroht worden.
Regierungskrise könnte junge Abgeordnete umdenken lassen
Außerdem könnte die Zahl der Nein-Sager bei der Union umso mehr sinken, desto wahrscheinlicher ein Koalitionsbruch wird, wenn das Renten-Paket im Bundestag durchfällt. Da die SPD damit droht, im Fall eines Scheiterns des Gesetzes auch andere Vorhaben zu blockieren, dürften die Renten-Rebellen gewarnt sein.
Ein Koalitionsbruch könnte nämlich zwei unangenehme Folgen haben: Zum einen, dass Deutschland in einer schwierigen weltpolitischen Lage erheblich Einfluss verlieren würde – worauf Merz auch immer wieder hinweist. Zum anderen erhöht ein Koalitionsbruch die Wahrscheinlichkeit von Neuwahlen. Für die jungen Renten-Rebellen stünde dann der eigene Abgeordnetenjob auf der Kippe. Bei aller Prinzipientreue in der Renten-Frage sorgt das bei manchen vielleicht doch für ein Umdenken.
Die Junge Gruppe hat es trotz einer grundsätzlichen Ablehnung des Renten-Pakets jedem Mitglied freigestellt, „die Argumente abzuwägen und eine Entscheidung zu treffen“, wie es in einer Stellungnahme von Montag heißt. Das Szenario, dass es genügend Abgeordnete gibt, die ihren Widerstand aufgeben, ist eher hoch.
Szenario 2: Junge Gruppe wählt die Ströbele-Option
Wenn jeder Renten-Rebell für sich abwägt und entscheidet, erhöht das aber auch die Unsicherheit, wie die Abstimmung am Freitag ausgehen wird. Die Junge Gruppe könnte daher eine Absprache treffen, die gesichtswahrend ist, aber dennoch die Mehrheit für das Gesetz sichert.
Dafür gibt es ein historisches Vorbild: Die rot-grüne Koalition von Kanzler Gerhard Schröder stellte 2001 den Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan zur Abstimmung. Vor allem einige linke Grünen-Abgeordnete um Christian Ströbele wollten das aber nicht mittragen. Schröder sah sich daher gezwungen, die Abstimmung mit einer Vertrauensfrage über seine eigene Zukunft als Kanzler zu verbinden.
Aufteilung der Stimmen kann schnell schiefgehen
Ströbele und seine Verbündeten standen daher vor der Frage, wie sie ihren Widerstand gegen den Bundeswehr-Einsatz ausdrücken können, ohne den Kanzler zu stürzen. Der Alt-Grüne ersann eine Lösung: Die Abgeordneten sprachen ab, dass genau so viele von ihnen für Schröder und den Einsatz stimmen, dass die Abstimmung nicht scheitert. Der Rest aber stimmt dagegen und drückt somit stellvertretend für die anderen Abgeordneten seine ablehnende Haltung aus.
Johannes Winkel, Vorsitzender der Jungen Union, und Junge-Gruppe-Chef Pascal Reddig könnten sich daran ein Beispiel nehmen. Das Problem: Die Ströbele-Variante kann schnell schiefgehen. Wenn am Freitag unerwartet mehrere Abgeordnete krank werden, die für das Gesetz gestimmt hätten, müssten zusätzliche Rebellen mit Ja stimmen. Die Junge Gruppe müsste genau durchzählen.
Szenario 3: Abstinenz oder Enthaltung sichert Mehrheit
Damit die Renten-Rebellen nicht gegen ihre Überzeugung stimmen müssen und trotzdem das Alterssicherungs-Paket möglich machen, gibt es einen einfachen Kniff: Sie können der Abstimmung fernbleiben. Denn es geht nicht darum, dass mehr als die Hälfte der insgesamt 630 Bundestagsabgeordneten für ein Gesetz stimmt. Entscheidend ist, dass die Mehrheit der anwesenden Abgeordneten zustimmt.
Fehlen die Renten-Rebellen am Freitag, fallen sie schlichtweg aus der Rechnung. Einen Preis müssten sie aber zahlen: Fehlen Abgeordnete bei einer namentlichen Abstimmung, wird eine Strafe in Höhe von 200 Euro fällig. Das Geld wird dann von der monatlichen Kostenpauschale abgezogen.
Die Abgeordneten könnten aber auch zur Abstimmung erscheinen und sich enthalten. Enthaltungen spielen nämlich keine Rolle, wenn es um eine einfache Mehrheit geht.
Szenario 4: Linke Mehrheitsbeschaffer helfen Merz
Zumindest theoretisch könnte die schwarz-rote Koalition von ungeahnter Seite Hilfe bekommen. Die Linke ist nämlich grundsätzlich dafür, die Rente zu stabilisieren, auch wenn ihr das vorgelegte Gesetz nicht weit genug geht. Ihre Abgeordneten könnten die fehlenden Stimmen der Jungen Gruppe ausgleichen.
Das Szenario bringt aber ganz eigene Probleme mit sich. Denn die Union hat einen Unvereinbarkeitsbeschluss mit der Linken. Selbst wenn Merz und Spahn nicht aktiv um die Zustimmung werben, würde es die Stimmung in CDU und CSU nicht besser machen, wenn das Renten-Paket nur mit Stimmen der Linken verabschiedet wird.
Und auch die Linke wird sich sehr genau überlegen, ob sie der Koalition aus der Patsche helfen will. Denn das könnte bei den eigenen Wählern schlecht ankommen. Eine Gegenleistung wäre da schon besser – die wird die Union aber sicher nicht bringen wollen.
Szenario 5: Die Abstimmung mündet im Chaos
Jegliche Rechenspiele stehen unter dem Vorbehalt, dass die Abgeordneten sich am Freitag so verhalten, wie im Vorfeld angekündigt. Auf der einen Seite gibt es dafür ein disziplinierendes Instrument. Denn es wird namentlich abgestimmt werden. Kündigt ein Renten-Rebell in den Gesprächen mit Spahn an, für das Gesetz zu stimmen, und tut es dann doch nicht, wäre das klar ersichtlich – und das Tischtuch zwischen dem Abweichler oder der Abweichlerin mit der Unions-Führung wohl zerschnitten.
Chaos könnte aber entstehen, wenn unerwartet Abgeordnete ausfallen. Eine Grippe, ein Schicksalsschlag in der Familie, eine Verspätung wegen eines Staus: Es gibt viele Möglichkeiten, warum das passieren könnte. Wenn mehrere Abgeordnete ausfallen, die sicher für das Gesetz gestimmt hätten, müssten zusätzliche Nein-Sager umgestimmt werden. Gelingt das kurzfristig nicht mehr, könnte die Koalition in eine Abstimmungsniederlage laufen.
Spahn und Bilger müssen daher bis zur letzten Minute einen genauen Überblick haben, wie die Mehrheitsverhältnisse sind. Gleiches gilt für SPD-Fraktionschef Matthias Miersch. Bei den Sozialdemokraten wird sogar Bauministerin Verena Hubertz ihren Mutterschutz unterbrechen, um die Mehrheit abzusichern.
Szenario 6: Die Koalition rettet sich durch eine Verschiebung
Ein letzter Ausweg bleibt der Koalition, wenn sich eine Abstimmungsniederlage andeuten sollte: Sie könnte die Abstimmung von der Tagesordnung nehmen. Es wäre nicht das erste Mal in dieser Legislaturperiode, dass der Schritt nötig wird. Die Wahl von Verfassungsrichtern konnte gerade noch gerettet werden, indem sie verschoben wurde.
Zumindest theoretisch würde eine Verschiebung dem Kanzler ein Druckmittel eröffnen. Merz könnte die Abstimmung mit der Vertrauensfrage verbinden. Am Freitag wird das nicht der Fall sein – schon allein deshalb, weil für die Vertrauensfrage eine Frist von 48 Stunden gilt. Für die Renten-Abstimmung am Freitag ist sie am Mittwochvormittag abgelaufen.
Szenario 7: Das Renten-Paket fällt durch, die Koalition bricht
Immer noch möglich ist das Szenario, dass die Koalition auf keinem der beschriebenen Wege eine Mehrheit für das Renten-Paket erhält. Zur Zahl der Abweichler gab es nach dem Stimmungsbild in der Unionsfraktion am Dienstag unterschiedliche Angaben.
Verschiedene Quellen sprechen von 12 bis 21 Nein-Stimmen. Zwar werden auch von denen, die in der Fraktion gegen das Gesetz gestimmt haben, sich am Freitag dafür aussprechen. Dennoch könnte es knapp nicht für eine Mehrheit reichen.
Was dann geschieht, ist völlig offen. Nimmt man aber die Worte von Arbeitsministerin und SPD-Chefin Bas ernst, könnte es zum Koalitionsbruch kommen. Sie hatte am Montag gesagt, die Verabschiedung des Gesetzes sei "wichtig, insbesondere natürlich für den Fortbestand der Koalition".
Denkbar ist aber auch ein Aus auf Raten. Der SPD-Abgeordnete Ralf Stegner sagte „Table Media“, ein Scheitern bei der Abstimmung "könnte nicht folgenlos bleiben". Es sei dann sicher, "dass man nicht einfach zur Tagesordnung übergehen und weitere Gesetzesvorhaben der Koalition verabschieden könnte".
Die Sozialdemokraten könnten zum Beispiel die Bürgergeld-Reform auf Eis legen – ein zentrales Wahlversprechen von Merz. Er könnte sich daher dazu gezwungen sehen, Bas als Arbeitsministerin zu entlassen. Das würde vermutlich das Ende von Schwarz-Rot bedeuten.