„Wer 45 Jahre auf dem Buckel hat, ist körperlich durch“ – Dachdecker kritisiert Rentensystem
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Das Dilemma ist seit vielen Jahren bekannt: Die Rentenkassen werden wegen steigender Lebenserwartung bei anhaltendem Schrumpfen der Beitragszahler-Menge immer klammer.
Trotzdem will die schwarz-rote Koalition unter Friedrich Merz (CDU) am Renteneintrittsalter von 67 Jahren nicht rütteln. So steht es im Koalitionsvertrag. Als Bundeswirtschaftsministerin Katharina Reiche (CDU) vor einigen Tagen forderte, das Renteneintrittsalter auf 70 Jahre für die Generation Babyboomer anzuheben, war selbst die eigene Partei nicht amüsiert.
Finanzminister Lars Klingbeil (SPD) schlug zudem vor, doch mal die Dachdecker im Land zu fragen, was sie davon hielten. Sie hätten schon Probleme, bis 67 zu kommen. Wir haben bei einigen von ihnen nachgefragt.
"Rente mit 70 ein Muss, aber es braucht kluge Modelle"
Jens-Norbert Schmidt ist 64 und Dachdeckermeister in Sachsen-Anhalt, wo er im Burgenlandkreis bei Weißenfels eine Firma mit 40 Mitarbeitern betreibt. "Wer vor 30 Jahren in Rente ging, hatte noch zehn, 15 Jahre Ruhe, dann hat ihn Gott geholt, und alles war gut", sagt er.
"Heute leben alle länger. Meine Mutter ist 91. Das Rentensystem haut nicht mehr hin, und ein Platz im Pflegeheim kostet viel Geld", so Schmidt, der auch Obermeister der Dachdeckerinnung Sachsen-Anhalt Süd ist.
Schmidt redet nicht lange um den heißen Brei herum, wenn es um das Thema Rente geht. "Dass wir das Rentenalter auf 70 erhöhen müssen, und zwar für alle, ist ein Muss, daran führt aus meiner Sicht überhaupt kein Weg vorbei. Das ist allein eine mathematische Frage, keine politische", so der Innungs-Obermeister. "Weniger Beitragszahler, mehr Rentner, längere Lebenszeit, weniger Geld."
Mit einer allgemeinen Anhebung des Rentenalters jedoch sei es nicht getan – zumindest nicht bei Handwerksberufen wie Dachdecker, Mauer oder Gerüstbauer, die mit schwerer körperlicher Arbeit verbunden seien. "Da braucht es kluge Modelle, bei denen sowohl die Flexibilität der Handwerksbetriebe als auch die des Staates gefragt sind."

"Ältere Mitarbeiter happy über Arbeitszeit- und Lohnkürzungen"
Schmidt kennt genügend Beispiele, bei denen Handwerker tatsächlich nicht bis 67 durchhalten könnten, weil sie körperlich zu ausgelaugt seien. Doch es gibt in seinen Augen auch einige andere, die noch weiterarbeiten würden, "sogar über 67 Jahre hinaus", erklärt der Dachdecker-Obermeister.
In seiner Firma hat Schmidt mit einigen Mitarbeitern eine Lösung gefunden, mit der alle gut leben können. "Vor drei Jahren haben mich vier Maurer, alle Ende 50, gefragt, ob sie nicht von einer Fünf- auf eine Viertagewoche umsatteln könnten, weil ihnen die Belastung einfach zu hoch wurde. 'Klar', habe ich gesagt, 'ihr kriegt dann aber entsprechend weniger Geld'. Das haben alle akzeptiert, sind damit absolut happy und arbeiten nun weiter."
"Viel zu viele zählen die Tage zur Rente, obwohl sie noch arbeiten könnten"
Was Schmidt überhaupt nicht verstehen kann, ist die Einstellung, mit der viele ältere Arbeitnehmer der Rente entgegenfiebern. "Viel zu viele zählen in Deutschland wirklich die Tage, bis sie Pensionär werden. Doch sie unterschätzen meiner Erfahrung nach, wie jung und fit Arbeit hält und dass viele mit der Zeit, die sie als Rentner dann haben, nichts anfangen können."
Das beobachtet er auch im eigenen Freundeskreis. Vor allem, wenn Bekannte in den Vorruhestand gingen, obwohl sie noch fit und energiegeladen seien. Der Dachdecker-Meister plädiert für "flexiblere Arbeitsmodelle", die bei Bedarf auch mit steuerlichen Erleichterungen verbunden und damit attraktiver werden könnten.
"Vielleicht lohnt es sich ja, die Arbeitszeit für alle schon ab 50 zu reduzieren, dann aber bis 75 durchzuarbeiten, wer das kann." Und was Handwerksberufe wie Dachdecker angehe, könnten die Betriebe ältere Mitarbeiter, die viel Erfahrung haben, auf körperlich weniger anspruchsvolle Tätigkeiten umschichten. Der Staat könnte helfen, Umschulungsmaßnahmen mitzufinanzieren."
Schmidt spricht auch von Jobs wie Hausmeistertätigkeiten. Wer in diesem Bereich suche, nehme Handwerker, die physisch nicht mehr voll einsatzfähig seien, "mit Kusshand", weil sie oft Allroundtalente seien. Um diese Jobs besetzen zu können, müsse der Staat dann notfalls steuerliche Erleichterungen schaffen. Sonst fressen bei einem kleinen Verdienst Steuerzahlungen das Gehalt auf.

"Wer 45 Jahre auf dem Buckel hat, ist körperlich durch"
Florian Utz aus Heidelberg hat mit seinen 43 Jahren als angestellter Dachdecker zwar noch Zeit bis zur Rente. Doch das Thema hat er ebenfalls fest im Blick. "Ich sehe das in diesem Punkt wie Lars Klingbeil. Durcharbeiten bis 70, das geht so pauschal in unserer Branche nicht", sagt er zu FOCUS online.
"Die meisten Dachdecker fangen mit 15, 16 Jahren an zu arbeiten. Wenn sie 45 Jahre auf dem Buckel haben, dann sind viele von ihnen durch, körperlich nicht mehr in der Lage, weiter wie bisher zu arbeiten und haben sich aus meiner Sicht ihren Anspruch auf eine volle Rente wirklich verdient."
45 Jahre Beitragszahlung, so Utz, sollten ausreichen. Gerade auch, weil die Arbeit als Handwerker körperlich belastend ist. Viele Handwerker seien nach 45 Berufsjahren erst um die 60. "Wenn auf 67 Jahre noch drei Jahre draufgepackt werden, dann hätten sie nicht nur 52, sondern sogar 55 Jahre gearbeitet. Das schaffen die meisten aber nicht. Das wäre unfair den anderen gegenüber."
Was Utz sich aber vorstellen kann, sind individuelle Regelungen wie Arbeitszeitverkürzungen, mehr Urlaub und weniger Gehalt im Alter. Das könnten sich allerdings oft nur größere Betriebe mit ein paar Dutzend Mitarbeitern leisten.
"Insgesamt sind wir im Dachdeckerhandwerk über die Erfahrung der älteren Kollegen sehr froh. Durch den demografischen Wandel sowie Arbeitserleichterungen ist der Anteil der Dachdeckerinnen und Dachdecker über 50 Jahre von 2000 bis 2023 von 9,6 auf 31,1 Prozent gestiegen.
"Anhebung des Rentenalters auf 70 für Dachdeckerbranche utopisch"
Otto Peetz, wie Jens-Norbert Schmidt 64 und Inhaber eines Dachdeckerbetriebs in Tübingen mit 40 Mitarbeitern, sieht wie sein sachsen-anhaltischer Kollege wegen der demografischen Entwicklung keine Alternative zur Anhebung des Rentenalters auf 70.
"Aber für die Dachdeckerbranche und das gesamte Bauhauptgewerbe ist das absolut utopisch", sagt Peetz. "Die wenigsten schaffen es in unserem Job, bis 65 durchzuarbeiten. Nach 40 Jahren ist man im Baugewerbe einfach körperlich kaputt."
Bei einer Anhebung auf 70 Jahre sieht Peetz viele Kollegen mit Altersarmut konfrontiert, weil Abschläge bei vorzeitigem Renteneintritt sich schnell sehr heftig auswirken würden. "Ich denke, wer 45 Jahre im Bauhauptgewerbe geschafft hat, der sollte in Rente gehen und abschlagsfrei den vollen Betrag bekommen, ganz gleich, wie alt er ist. Das wäre fair."
Staat könnte helfen und sichert sich so mehr Beitragszahler
Auch Peetz zeigt sich offen, als Betriebsinhaber daran mitzuarbeiten, durch flexiblere Arbeitszeitmodelle dem Problem fehlender Beitragszahler entgegenzuwirken, das Frühverrentungen mit sich bringen. "Wenn ein Dachdecker das 60. Lebensjahr erreicht, ist er wegen seiner Betriebszugehörigkeit eine der teuersten Arbeitskräfte, ist aber einfach nicht mehr so leistungsfähig wie Jüngere."
Der erfahrene Mitarbeiter könnte andere, körperlich weniger anspruchsvolle Aufgaben übernehmen oder weniger arbeiten und dafür weniger Lohn erhalten. "Der Staat könnte im Gegenzug helfen, die Differenz auszugleichen. Das müsste doch lukrativ sein, immerhin bleiben ihm so Beitragszahler erhalten, die in unserem Handwerk deutlich länger arbeiten könnten."