Change- und KI-Experte Kishor Sridhar - Warum KI nicht befreit, sondern unterdrückt – und wir es zulassen

In den frühen 2000er-Jahren war das Internet ein Hoffnungsträger der Freiheit. Offene Plattformen, neue Formen des Austauschs und der Zugang zu Informationen für alle – das galt als Treibstoff für mehr Demokratie weltweit. Der „Arabische Frühling“, die globale Blogosphäre und die digitale Selbstermächtigung galten als Zeichen eines Aufbruchs.

Heute erleben wir einen technologischen Wandel ganz anderer Art – und mit einer anderen Wirkung: Die Ära der Künstlichen Intelligenz ist angebrochen. Doch sie befeuert nicht die Freiheit, sondern autoritäre Tendenzen – in Staaten, aber auch in Unternehmen. Und das sage ich als jemand, der per se an den technologischen Fortschritt glaubt. Eben weil ich KI, Digitalisierung und neue Arbeitsprozesse in Firmen als Change-Berater implementiere. Aber gerade in dieser Eigenschaft erkenne ich auch die Grenzen und die Gefahren.

Über den Experten Kishor Sridhar

Kishor Sridhar, Executive Berater, Keynote Speaker und Buchautor, ist anerkannter Experte für Change, Führung und Digitalisierung. Er begleitet deutsche und internationale Entscheider und Führungskräfte operativ in der Unternehmensentwicklung und bei Veränderungsprozessen. In Change-Prozessen bringt er dabei praxisbewährte Erkenntnisse aus seinen Wirtschaftsstudien, wie z.B. „KI in deutschen Unternehmen“ ein und verknüpft diese mit psychologischen Effekten zum „Erfolgsfaktor Mensch“. Kishor Sridhar lehrt an der International School of Management in München u.a. Cross Cultural Leadership und New Work.

1. KI fördert autoritäre Regime und autoritäre Führungskulturen

Wir alle kennen das Beispiel von Staaten wie China, wo KI eingesetzt wird, um das Verhalten von Millionen Menschen zu überwachen und zu steuern. Was totalitär klingt, funktioniert technologisch beeindruckend effizient. Doch auch in Unternehmen zeigen sich ähnliche Tendenzen – wenn auch subtiler: KI-Systeme dienen einerseits als Entscheidungsgrundlagen und nehmen uns das Denken ab. Das klingt erst einmal bequem, aber worauf beruhen diese Entscheidungen? Sind KI-Entscheidungen wirklich besser als die menschlichen? Und vor allem: Einen Menschen kann man hinsichtlich seiner Entscheidungskriterien befragen. Eine KI jedoch können wir nicht verstehen. Das geben selbst jene zu, die die KI programmiert haben.

Als Change-Berater sehe ich, wie aus dem Wunsch nach Effizienz schnell ein gefährliches Denken entsteht: „Die KI wird es schon wissen.“ Entscheidungen werden delegiert – nicht mehr an Menschen, sondern an Computer. Und damit geben wir die Entscheidung an ein System, von dem wir nicht wissen, wie es die Entscheidungen trifft. Klingt das wirklich sinnvoll?

2. Die Illusion der Objektivität – und das Ende des Widerspruchs

KI wirkt sachlich, objektiv, fehlerfrei. Doch genau darin liegt die Gefahr: In Unternehmen wie in der Politik kann man sich hinter Algorithmen verstecken. „Der Computer hat entschieden“ – dieser Satz beendet viele Diskussionen. Statt Debatte gibt es Gehorsam gegenüber einem System, das vermeintlich neutral ist, in Wahrheit aber auf menschlichen Daten und Vorannahmen beruht.

In einer solchen Umgebung wird Widerspruch zunehmend als ineffizient empfunden. Menschen passen sich dem System an, nicht umgekehrt. Kritisches Denken wird zur Störung – und das ist die Vorstufe jeder autoritären Struktur, ob in Organisationen oder Staaten. Die KI ist der sympathisch wirkende Diktator – und genau das ist brandgefährlich.

3. Der Verlust der Meinungsvielfalt – auch im Büro

Können Sie sich noch an Twitter erinnern? Ich meine das alte Twitter, das demokratische Revolutionen angestoßen hat? Während das offene Internet die Debattenkultur gefördert hat, erleben wir heute mit KI eine andere Dynamik: Sprachmodelle und Empfehlungssysteme „filtern“ bereits vor, was als relevant oder sinnvoll gilt. Im Arbeitskontext bedeutet das oft: Nur die Ideen, die in Daten oder Benchmarks vorkommen, zählen noch. Was wäre, wenn die Entscheidungsvorgaben der KI durch eine autoritäre Person gefüttert würden? Sie halten das für Illusion? Dann fragen Sie mal Elon Musk.

Innovation, Kreativität, Unkonventionalität? Schwierig – denn die KI „sieht“ nur, was bereits war. Menschen verlernen, selbst zu denken, Dinge infrage zu stellen oder ganz neue Wege zu gehen. Die Folge ist so klar wie erschütternd: Organisationen verflachen gedanklich – und das macht sie anfällig für autoritäre Führung und blinden Aktionismus.

4. Wenn KI zum Informationsportal wird – und das Denken verödet

Meine eigene 21-jährige Tochter schwört auf ChatGPT. Sie nutzt für viele ihrer Fragen nicht mehr Google, Bücher oder Diskussionen – sondern direkt die magische KI. Daraufhin bat ich sie einmal, die tolle KI zu fragen, was sie über mich weiß. ChatGPT fabulierte daraufhin von Thesen, die ich nie vertreten habe, und von einem Buch samt Titel, das weder ich noch ein Namensvetter veröffentlicht haben. Auf eine weitere Frage hin bestätigte die KI, dass dieses „fiktive“ Buch mein Hauptwerk sei.

Meine Tochter weiß, was ich treibe. Andere Menschen hingegen nicht. Aber ich bin auch nicht wichtig. Entscheidend ist jedoch, wenn die KI mehr und mehr zum Portal wird, durch das wir die Welt wahrnehmen. Dieses Portal ist aber nicht transparent, nicht überprüfbar und oft nicht korrekt. Statt Meinungsvielfalt gibt es komprimierte Antworten. Statt Diskussion vorgekaute Phrasen. Für viele junge Menschen ersetzt das bereits jetzt klassische Recherche, kritisches Hinterfragen oder das Gespräch mit anderen.

Genau das ist demokratiegefährdend – und organisationsschädlich. Denn wenn der Zugang zu Information zentralisiert und gesteuert wird, verlernen Menschen, sich selbst ein Bild zu machen. Und das macht sowohl Gesellschaften als auch Unternehmen anfälliger für autoritäre Muster: Hauptsache, es klingt plausibel. Hauptsache, jemand entscheidet für mich.

5. Was autoritäre Systeme mit der Wirtschaft gemeinsam haben

Es klingt provokant, aber es ist real: In beiden Fällen – autoritäre Staaten und datengetriebene Unternehmen – geht es um Steuerung, Effizienz und Planbarkeit. Beides kann kurzfristig sehr erfolgreich wirken. Aber langfristig zerstört es das, was echte Veränderung ausmacht: Diskurs, Diversität, Denken in Alternativen.

Wenn wir KI kritiklos folgen, bauen wir uns Systeme, die auf Gehorsam und Reproduktion setzen – nicht auf Innovation und Entwicklung. Die Folgen sind geistige Verarmung und sinkende Widerstandskraft gegenüber Manipulation – sowohl politisch als auch wirtschaftlich.

6. Nie war der Mensch so wichtig wie heute

Trotz aller Risiken dürfen wir nicht vergessen: Künstliche Intelligenz ist nicht der Feind. Richtig eingesetzt, kann sie uns genau dort entlasten, wo wir Menschen unsere Zeit nicht verschwenden sollten – bei repetitiven, regelbasierten Aufgaben, bei endlosen Reports oder bei der Datenanalyse.

Das eröffnet neue Räume – für echtes Denken, für Kreativität, für menschliche Begegnung und sinnvolle Führung. Doch dafür müssen wir als Menschen bewusst entscheiden, wofür wir KI einsetzen und wofür nicht. Wir brauchen klare Leitplanken, einen reflektierten Umgang – und vor allem das Bewusstsein, dass Technologie uns dienen soll, nicht dominieren.

Deswegen glaube ich daran: Nie war der Mensch so wichtig wie heute!

Wir müssen die neue Technologie nur intelligent einsetzen. Aber genau darin waren wir Menschen leider bereits zuvor häufig nicht besonders gut.

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