Taktische Gewinne bringen Russland näher an ukrainischen Festungsgürtel
Russische Truppen drängen die Ukrainer westlich von Awdijiwka und Bachmut zurück. Ihre Vorstöße zielen auf einen ukrainischen Festungsgürtel.
Awdijiwka – Der ukrainische Oberkommandierende Generaloberst Oleksander Syrskyj gab über seinen Telegram-Kanal bekannt, dass die Ukrainer sich aus Semeniwka, Berdychi und Nowomychajliwka zurückgezogen hätten. Diese drei Orte liegen auf einer Linie, die westlich der von den Russen gehaltenen Linie Bachmut–Awdijiwka–Donezk verläuft. Dort konzentrieren sich die meisten Kämpfe im Ukraine-Krieg derzeit, denn die Truppen von Wladimir Putin versuchen, die ukrainischen Verteidigungen zu durchbrechen, bevor die neuen US-Waffenhilfen eintreffen. Dennoch sprechen die Militärexperten vom Institute for the Study of War (ISW) noch nicht von einer großangelegten russischen Offensive, die sie stattdessen für den Sommer vorhersagen.
Das übergeordnete strategische Ziel Russlands ist an diesem Frontabschnitt, den Rest der Oblaste Donezk und Luhansk zu besetzen, die es bereits am 20. September 2022 völkerrechtswidrig annektiert hatte. Daran hindert die Kreml-Soldaten im Norden westlich von Bachmut vor allem ein Gürtel befestigter Städte: Dessen Angelpunkte sind Kramatorsk, Slowjansk, Druzhkivka und Kostjantyniwka.
Taktische Fortschritte: Russen nähern sich ukrainischem Festungsgürtel
Um hier voranzukommen, richtet die russische Armee ihre Bemühungen nun vor allem gegen Tschassiw Jar, das nur 15 Kilometer westlich von Bachmut liegt. Der Ort wäre ein ausgezeichnetes Sprungbrett, so das ISW, um von dort die beiden südlichen Festungsstädte Druzhkivka und Kostjantyniwka anzugreifen. Wie ernst es den Russen ist, zeigt sich auch darin, dass sie hier Eliteeinheiten an der Front stehen haben: Fallschirmjäger der 98. Luftlandedivision sowie die 7. Luftlandesturmbrigade führen die Offensivoperationen, wie der interaktiven Karte von Deep State UA zu entnehmen ist.

Weiter nördlich konnten die russischen Truppen seit der verlustreichen Einnahme von Awdijiwka im Februar 2024 ihre Gebietsgewinne nach Westen ausweiten, was die Kontaktlinie stetig weiter von der Großstadt Donezk entfernt. Dort, wo sich seine Truppen nun aus Semeniwka und Berdychi zurückgezogen hätten, so der ukrainische Generaloberst Syrskyj, sei die Lage aktuell am schwierigsten. Der Feind habe bis zu vier Brigaden in diese Gebiete verlegt, um sein operatives Ziel Pokrowsk zu erreichen, so der Oberkommandierende der Ukraine weiter auf Telegram.
Ukrainischer Rückzug westlich von Awdijiwka könnte den Russen den Weg freimachen
Das ISW geht zwar nicht davon aus, dass es den russischen Truppen in der näheren Zukunft gelingt, Vorstöße in der Gegend durchzuführen, die signifikante und nachhaltige territoriale Zugewinne zur Folge haben. Dennoch könnten sie bald die Gelegenheit bekommen, blitzartig über die Felder westlich von Awdijiwka vorzurücken: Wenn die Ukrainer sich wie nun aus Semeniwka und Berdychi aus weiteren Orten in der Gegend zurückziehen, könnten sie gezwungen sein, weit zurückzufallen.
Zwischen der aktuellen Frontlinie und dem nächsten Gürtel von Ortschaften, die befestig- und verteidigbar sind, liegen nämlich ausladende Felder, auf denen die einzigen Hindernisse Hecken sind, wie das ISW schreibt. Die ukrainischen Streitkräfte könnten an diesen natürlichen Barrieren eine neue Verteidigung verankern. Sollten sie sich aber stattdessen für sicherere Positionen in den Dörfern des Hinterlands entscheiden, wäre es den Russen wohl möglich, recht schnell relativ viel Strecke zurückzulegen.
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Russische Einheiten bedrohen neuerdings wieder Charkiw
Die Ukraine muss nun ausharren und den russischen Ansturm überstehen, bis die in Aussicht stehenden US-Waffen eingetroffen sind. Was noch ein Problem werden könnte: Eine wiedererstandene Gefahr im Norden dünnt ihre Stellungen westlich von Awdijiwka aus. Der ukrainische Oberbefehlshaber Syrskyj fürchtet nämlich, ein erneuter russischer Versuch zur Eroberung von Charkiw stünde bevor. Daher verlegt er Truppen in die zweitgrößte Stadt der Ukraine, aus deren Umgebung er die Russen im Herbst 2022 vertrieben hatte. Das ISW schätzt die russischen Kräfte in der Region hingegen nicht als ausreichend für eine Rückeroberung ein.