„In ländlichen Raum investieren“: Wohnungsloser erklärt, wo die Politik anpacken sollte

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Immer mehr Menschen in Deutschland sind obdach- und wohnungslos. Einen Betroffenen wundert das nicht. Dabei liegen Lösungen auf der Hand.

Köln/Berlin – In Deutschland haben immer mehr Menschen keine eigene Bleibe. Die Zahl der Wohnungslosen stieg zuletzt drastisch an und verdoppelte sich im Vergleich zum Vorjahr. Jürgen Helten wundert das nicht. Er ist selbst seit Jahren wohnungslos und kennt die Probleme hinter steigender Obdachlosigkeit. Der Wahl-Kölner sieht Politik und Verwaltung in der Verantwortung.

Wohnungslosigkeit verdoppelt sich in einem Jahr

„Insgesamt fehlt es am Willen der Verantwortlichen“, resümiert Helten im Gespräch mit IPPEN.MEDIA frustriert. Wie neue Zahlen der Bundesregierung zeigen, waren 2023 offiziell 372.000 Menschen wohnungslos. 2022 lag der Wert noch bei 178.000. Dazu kommen laut Schätzungen etwa 50.000 Obdachlose im Land.

Wohnungslosigkeit – Definition

Wohnungslos ist nicht gleich obdachlos. Als wohnungslos gelten Menschen, wenn sie zwar ein Dach über dem Kopf haben, aber keine Wohnung. Sie schlafen in Notunterkünften oder vorübergehend bei Bekannten auf der Couch. Zu Obdachlosen, also Menschen, die auf der Straße oder im Park leben, gibt es keine validen Zahlen. Schätzungen gehen von deutschlandweit rund 50.000 Obdachlosen aus (Stand Januar 2023).

Helten kennt sich mit den Problemen von Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit bestens aus. Zum einen saß er einige Zeit für die Linke in der „Stadtarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenpolitik“ der Stadt Köln. Zum anderen lebt Helten selbst schon lange ohne eigene (Miet-)Wohnung. „Ich bin vor etwa 14 Jahren nach Köln gekommen. Bei der Wohnungssuche und dem Umzug war ich im Nachhinein betrachtet wohl etwas blauäugig, ein Wohnungsangebot habe ich damals auch abgelehnt“, sagt Helten zu den Ursprüngen seiner Wohnungslosigkeit. „Später bin ich dann bei unterschiedlichen sozialen Trägern untergekommen und tue das noch immer.“

EU will Obdachlosigkeit bis 2030 beenden – „Ziel können wir knicken“

Angesichts der steigenden Zahl an Wohnungs- und Obdachlosen hält Helten die Politik für nicht zielgerichtet. „Die EU gibt bis 2030 vor, Obdachlosigkeit in seinen Mitgliedstaaten zu beenden – dieses Ziel können wir knicken.” Der Wohnungslose weiß, dass es sowohl auf kommunaler wie auf Landes- und Bundesebene zwar viele Initiativen gibt. Diese sind seiner Erfahrung nach jedoch zu träge und bürokratisch. So kritisiert er etwa das Kölner Konzept zur Bekämpfung von Wohnungslosigkeit als zu unkonkret. Besonders explodierende Mieten und die Wohnungsnot bringen etliche Menschen in die Obdach- und Wohnungslosigkeit.

Bundesland Zahl der Wohnungslosen (absteigend)
Nordrhein-Westfalen 84.690
Baden-Württemberg 76.510
Berlin 39.375
Bayern 32.380
Hamburg 32.285
Niedersachsen 27.995
Hessen 22.645
Schleswig-Holstein 19.420
Rheinland-Pfalz 12.040
Thüringen 6875
Bremen 5630
Brandenburg 3290
Sachsen 2935
Saarland 2805
Sachsen-Anhalt 1980
Mecklenburg-Vorpommern 1195

Wirkliche Hilfe für Obdach- und Wohnungslose bietet Helten zufolge das Modell „Housing First“. Der in den USA entwickelte Ansatz stellt eine Alternative zum herkömmlichen Umgang mit Obdachlosigkeit dar. Statt Menschen wie bisher in mehreren Stufen und unter Auflagen erst einmal eine „Wohnfähigkeit“ beweisen zu lassen, bis sie in Notunterkünfte dürfen, geht „Housing First“ einen anderen Weg. Der Ansatz: Wer obdachlos ist, bekommt zuallererst eine Wohnung, alle anderen Probleme sind zweitrangig.

„Housing First“ – neuer Ansatz, um Obdachlosigkeit zu beenden

Der „Housing First“ Ansatz wird in anderen Ländern, etwa in Skandinavien, bereits seit Jahren praktiziert und liefert gute Ergebnisse. Durch den Weg, Menschen zuerst eine eigene Wohnung zu ermöglichen, wird Obdachlosigkeit nachhaltig reduziert. In deutschen Städten wie Berlin oder Köln liefen dazu bereits Pilotprojekte. Für Helten, der selbst in zeitlich begrenzten Notunterkünften lebte, geht es in Deutschland zu langsam voran. „Das ist meiner Einschätzung nach ein Grundproblem in Politik und Verwaltung: Wenn etwas in anderen Ländern seit Jahrzehnten erfolgreich angewendet wird, brauche ich hier nicht noch ein riesen Modellprojekt.”

In Berlin lief das „Housing First“-Modellprojekt 3,5 Jahre bis 2021. Seitdem wird der Ansatz in der Stadt verstetigt. Der sogenannte Berliner Masterplan, der wie die EU das Ziel der Überwindung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit bis 2030 anstrebt, macht den neuen Ansatz zur zentralen Säule: „Das Prinzip Housing First – Zuerst eine Wohnung! – soll das Leitmotiv der Wohnungslosenpolitik der 2020er Jahre werden“, heißt es im Bericht.

Wegen steigender Obdach- und Wohnungslosigkeit: Investieren in ländlichen Raum

Dass der Ansatz nun in Deutschland anläuft, befürwortet Helten grundsätzlich. „Housing First ist ein gutes Modell, aber natürlich brauchen wir dazu auch erstmal bezahlbaren Wohnraum. Der Fokus der Kommunen müsste deshalb auf der Finanzierung liegen.“ Doch das Gegenteil ist häufig der Fall. Angesichts angespannter Haushalte kürzen derzeit viele Kommunen und Länder ihre Sozialausgaben. Für genügend kommunal gestellte oder unterstützte Wohnungen für Obdachlose fehlt somit häufig das Geld.

Da das Problem der Wohnungs- und Obdachlosigkeit vor allem in Städten auftritt und der Wohnraum dort besonders knapp ist, plädiert Helten für Investitionen in den ländlichen Raum. Denn wie viele andere ohne eigene Bleibe, ist auch er nicht ursprünglich aus der Stadt, sondern vom Land zugezogen. „Wir müssen mehr in den ländlichen Raum investieren, in öffentlichen Nahverkehr, Berufsaussichten, allgemeine Perspektiven. Das sind Gründe, wieso Menschen gezwungen sind, ihre ländliche Heimat zu verlassen und ihr Glück in der Stadt versuchen – und das manchmal erfolglos.“

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