Es ist der 26. September 2025. Am späten Abend klingelt ein offenbar besorgter Mohammed H. (Name geändert) bei der Polizei in Gelsenkirchen durch. Der Anrufer gehört zu einem Familienzweig der gleichnamigen türkischstämmigen Sippe, der Ärger mit dem Oberhaupt hat.
Seit längerer Zeit tobt ein familieninterner Streit rund um Clan-Boss Mehmet H., 56. Offenbar geht es um einen dubiosen Immobilienverkauf in der türkischen Heimat und um die Familienehre. Der Chef soll die aufsässigen Verwandten aus der Familie geworfen haben. Dieser Akt sorgt für böses Blut und heizt die Stimmung noch mehr auf.
Morddrohungen machen die Runde. Immer wieder wird die Polizei gerufen, weil die eine oder andere Seite eine Eskalation der Gewalt befürchtet.
Hilferuf ignoriert – Polizei reagiert nicht auf Notruf
An jenem Abend meldet sich Mohammed H. aus der Fraktion der Ausgestoßenen erneut bei der Polizei. Vor der Haustür habe sich angeblich eine Gruppe von Männern versammelt, die offenbar einen Angriff planten, sagt er sinngemäß. H. bittet die Ordnungshüter zu kommen, um den Spuk zu beenden.
Doch der Beamte in der Notrufzentrale weigert sich, seine Kollegen vorbeizuschicken. Dies geht aus einem Video hervor, mit dem das Gespräch mitgeschnitten wurde. Es liegt FOCUS online vor. „Hör mal, ihr seid für 80 Prozent der Einsätze in Gelsenkirchen verantwortlich, so funktioniert das nicht, ihr müsst euch hier vernünftig benehmen oder einer von euch muss nach Bremen ziehen“, schimpft der Polizist.
Die Hansestadt gilt wie etliche Ruhrmetropolen als Hotspot krimineller arabischer oder türkischer Großfamilien. Einmal in Fahrt, brüllt der Beamte in den Hörer: „So funktioniert die Nummer nicht, wir haben heute schon vier Anzeigen geschrieben, immer wegen dem gleichen Müll, weil immer wieder einer den anderen beschimpft hat oder angeblich stehen 20 Menschen mit Maschinenpistolen vor der Wohnung. Das ist alles Bullshit, wir sind gerade vor drei Minuten weggefahren, da war kein Mensch vor Ort. Wir haben etliche Anzeigen geschrieben, wir werden nicht noch eine schreiben.“
Entnervt macht der Verantwortliche auf der Polizeistation folgenden Vorschlag: „Ihr könnt auf die Wache kommen und alle Beweise vorlegen.“ Dann werde man zur Vernehmung vorladen. Dann könne man alles mitbringen, „Fotos, Videos und alles mit dem Sachbearbeiter besprechen, der gibt das an die Staatsanwaltschaft weiter und die wird dann entscheiden. Das sage ich aber zum allerletzten Mal, wenn das keiner versteht, dann ist das nicht mehr mein Problem. Ehrlich.“
Wochenlange Fehde endet tödlich
Seit Wochen versucht die Polizei, den Konflikt in der türkischen Großfamilie H. einzudämmen. Gleich mehrfach führen die Ermittler eine sogenannte Gefährderansprache bei den verfeindeten Familienangehörigen durch. Alles ohne Erfolg.
Am Sonntag, 5. Oktober, eskalierte die aufgeladene Situation endgültig und entlud sich in hemmungsloser Gewalt auf offener Straße. Laut den Ermittlungen stirbt Clan-Boss Mehmet H. durch Stiche ins Herz. Gegen vier Tatverdächtige ergeht Haftbefehl. Bei ihnen handelt es sich um die Gruppe jener Ausgestoßenen, die zwei Tage zuvor den abendlichen Notruf bei der Polizei abgesetzt haben.
Laut Anwalt Burkhard Benecken, der einen der inhaftierten Beschuldigten vertritt, wirft „das aufgetauchte Video von dem Notruf durch die Partei meines Mandanten ein völlig neues Licht auf den gesamten Fall. Wahrscheinlich hätte die Tragödie verhindert werden können, wenn die Polizei die berechtigten Ängste der Familienmitglieder ernst genommen hätte.“
Wenn ein Beamter über die Notrufnummer der Polizei „die Sorgen eines verängstigten Bürgers als Müll und Bullshit abtut und sich weigert, einen Streifenwagen rauszuschicken, dann scheint man die Lage tragischerweise völlig falsch eingeschätzt zu haben“.
Polizei spricht von laufenden Ermittlungen
Die Polizei in Gelsenkirchen erklärt, dass dieses Video über den Anruf erst durch eine FOCUS-online-Anfrage bekannt geworden sei. „Grundsätzlich geht die Polizei natürlich jedem Anfangsverdacht einer Straftat nach."
Und weiter: "Aus Neutralitätsgründen erfolgt die Prüfung etwaiger disziplinarrechtlicher oder strafrechtlicher Verstöße durch Polizeibeamte oder Dritte durch die Polizei Krefeld. Auch im vorliegenden Fall wurde die Prüfung somit an die Polizei Krefeld abgegeben.“
Weitere Details zu laufenden Ermittlungen wolle man nicht preisgeben, da die Pressehoheit bei der Staatsanwaltschaft liege. „Zudem ist in diesem Fall zum jetzigen Zeitpunkt weder die Echtheit noch die Vollständigkeit dieses Videos verifiziert“, teilte eine Behördensprecherin mit.