„Meine innere Uhr läuft“: Marine-Offizier warnt vor Angriff Russlands – und nennt Zeitrahmen

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Wladimir Putin (l), Präsident von Russland, grüßt Matrosen vor der großen Marineparade zum Tag der russischen Marine. (Archivbild) © Vyacheslav Prokofyev/dpa

Ein Korridor von Rotterdam bis Warschau: Wenn Putin angreift, werden Mensch und Material rollen. Bis dahin müssen die Häfen kriegstüchtig sein.

Hamburg – „Dann geht es um die Versorgung der Bevölkerung, es geht um Luftschutz, um die Krankenversorgung in einem medizinischen System, das sich auch um schwerst verwundete Soldaten kümmern muss“, sagt Michael Giss in der Welt. Der Kapitän zur See plant heute für die Zeit nach dem Ukraine-Krieg: Ihm untersteht das Landeskommando Hamburg der Bundeswehr, und auch der Hafen der Hansestadt wird kriegstüchtig werden müssen, wenn Wladimir Putin eventuell über das Baltikum in Nato-Territorium einrücken lassen will. Gliss hat längst eine Vorstellung davon, wann der Tag kommen könnte.

Auch Nico Lange lässt keinen Zweifel gelten über die Notwendigkeit einer zeitlichen Vorgabe. „Viele Menschen können schlecht nachvollziehen, dass es bei Verteidigungsfragen darum geht, das Schlimmste anzunehmen und sich darauf vorzubereiten. Aber das ist der einzige Weg, der wirklich zu verlässlicher Sicherheit führt“, sagt der Osteuropa-Experte der Münchner Sicherheitskonferenz. Die Frage, die als Schreckgespenst über Europa schwebt, ist diejenige, inwieweit Wladimir Putin nach dem Ukraine-Krieg die Kraft finden wird, sich auch Teile anderer Nato-Länder einzuverleiben. Und wann das sein wird.

Wenn Putin angreift, liegen im Hafen „graue Schiffe mit Kriegsmaterial“

Beobachter kalkulieren mit einem Zeitraum von zwei bis zehn Jahren, bis der russische Diktator aufmarschieren lässt – dabei gehen alle Planer davon aus, dass Russland eher mit Raketen angreift, um einzelne Ziele aus der Nato zu filetieren, beispielsweise Litauen. Sein Kalkül wird dahingehend eingeschätzt, sich einzelne Häppchen zu schnappen, die der Nato zu wenig bedeuten, um deswegen ihrerseits einen Weltenbrand zu entfachen.

„Wir haben nun einmal jahrzehntelang nicht oder zu wenig darüber nachgedacht, was auf uns zukommen könnte, wenn es ein Gegner ernst meint.“

Michael Giss ist da dezidierter: „Meine innere Uhr als Soldat läuft und sagt mir, in fünf Jahren müssen wir gesellschaftlich so resilient sein, um einer äußeren militärischen Bedrohung zu widerstehen“, wie er der Welt gegenüber geäußert hat. „Zwischen 20 und 40 Milliarden Euro wird die Bundesregierung ausgeben müssen, um beispielsweise die Munitionsbestände auf den Standard zu bringen, der in der Nato vereinbart ist“, sagt Hans-Werner Bartels (SPD) in einer aktuellen Dokumentation des Westdeutschen Rundfunks. Bartels war zwischen 2015 und 2020 Wehrbeauftragter der Truppe. Die momentane Dauer der Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr beziffert Bartels aktuell auf höchstens zwei Tage. Und allein die Munition wird für eine längere Verteidigung ständig nachzuführen sein.

Gliss muss deshalb dafür sorgen, das auch die Häfen kriegstüchtig werden, wie das Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) für die gesamte Bundeswehr gefordert hat. Vor allem der größte deutsche Seehafen in einem Territorium, das den Mittelpunkt des Nato-Europas darstellt, wie Giss in der Welt formuliert.

„Das bedeutet zum Beispiel, 800.000 Soldaten inklusive Material in zwei Monaten durch Europa nach Osten zu schleusen, Transporte von Verwundeten und Kriegsgefangenen zu organisieren, und zudem eine große Zahl von Flüchtlingen aus dem Baltikum oder aus Polen in einer Dimension, die alles in den Schatten stellt, was wir bislang kennen“; und im Hamburger Hafen würden statt der Kreuzfahrer und Container-Riesen „graue Schiffe mit Kriegsmaterial“ festmachen, wie er sagt.

Die Nato im Kriegsfall macht Deutschland zur Logistikdrehscheibe

Deutschland bekommt nach dem Ende des Kalten Krieges und vor einer möglichen neuen konflikthaften Phase seine Schlüsselrolle zurück: statt als Frontstaat nunmehr als Drehscheibe. „Europa müsse Russland seine Fähigkeit demonstrieren, Militärpersonal und Güter über seine Häfen, Straßen und Schienen zu transportieren“, schrieb das Magazin Defense News über eine Aussage von Siemtje Möller (SPD), der parlamentarischen Staatssekretärin im Verteidigungsministerium.

Das Magazin berichtete Anfang des Jahres über die Planung eines europäischen Korridors für die Verlegung von Nato-Truppen nach Osten; beteiligt sein sollen Deutschland, die Niederlande und Polen. Das niederländische Rotterdam, das belgische Antwerpen und Hamburg beherbergen die größten Seehäfen Europas. Vor allem der Nato-Partner USA ist auf eine funktionierende Logistik auf dem europäischen Festland angewiesen.

Fahrzeuge in Bremerhaven und Container in Hamburg –die Nato benötigt verschiedene Häfen

Wie die dort erscheinende Nordseezeitung Anfang 2023 berichtete, sei ein Großteil der von den USA an die Ukraine gelieferten Kriegsgüter über Bremerhaven in Europa angelandet worden – auch die Bradley-Schützen- und die Abrams-Kampfpanzer. In einem Kriegsfall sei aber die Diversifizierung der Umschlagplätze nötig, betont Giss gegenüber der Welt. Bremerhaven habe die geeigneten Kai-Anlagen für Roll-on/Roll-off-Transporte von Fahrzeugen, Hamburg böte die ausgefeilteren Kapazitäten für den Umschlag von Containern.

Wie im Ukraine-Krieg ersichtlich, nützen operative Kompetenzen wenig ohne defensive Fähigkeiten – im Falle Hamburgs sind zwischen der Nordsee und dem Kai mehr als 100 Kilometer Elbe zu meistern; und die Luftverteidigung ist eine von vielen Baustellen einer Bundeswehr, die auf Kriegstüchtigkeit getrimmt sein will. „Wir haben fünf bis acht Jahre Zeit. In diesem Zeitraum müssen wir eine Raketenabwehr aufbauen. Das ist ohne Alternative“, mahnte Anfang des Jahres bereits der Generalinspekteur der Bundeswehr, Carsten Breuer.

Kriegstüchtige Seehäfen brauchen Schutz von Arrow, Patriot und Iris-T

Im politischen Berlin stößt der Kauf des israelischen Systems Arrow-3 auf breite Zustimmung und wird das bereits vorhandene Patriot- und das kürzlich bestellte Iris-T-Luftverteidigungssystem der Bundeswehr ergänzen. Damit sollen eine untere, mittlere und obere Abfangschicht bis hinauf zu mehr als 35 Kilometern Höhe abgedeckt werden. Ein Projekt, das noch am Anfang steht und Geld beansprucht, von dem keiner weiß, wo das herkommen soll.

Am Boden setzt Giss auf die neu zu rekrutierenden Heimatschutz-Kräfte. Die Bundeswehr plant bis 2027 mit der Stationierung von sechs Heimatschutzregimentern, denen dann möglichst 6.000 Männer und Frauen angehören sollen. Im Frieden können sie eingesetzt werden in der Amts- und Katastrophenhilfe, also von schweren Unglücksfällen über Terrorlagen bis hin zu Pandemien. Im Spannungs- und Verteidigungsfall oder auch bereits bei einer krisenhaften Entwicklung sichern und schützen Heimatschutzkräfte auch Häfen und Bahnanlagen, Güterumschlagplätze, Pipelines, Straßen für den Truppenaufmarsch, Brücken, Verkehrsknotenpunkte und digitale Infrastruktur.

Wie die Deutsche Presseagentur (dpa) im März berichtet hatte, sieht Generalleutnant André Bodemann, den hausgemachten Katastrophenfall bereits jetzt heraufziehen. Nach Einschätzung des Befehlshabers des territorialen Führungskommandos der Bundeswehr fehlen auch dem Heimatschutz für die anvisierten Aufgaben die notwendigen Menschen – teilweise auch aufgrund von überbordender Bürokratie: Die Bundeswehr stelle fest, dass sich viele Menschen für den Heimatschutz interessierten, sagte Bodemann der dpa. „Leider bekommen wir die Menschen nicht so schnell in das System rein.“

Bundeswehr „light“ macht Zivilisten bis 57 Jahren zu Heimatschützern

Und das Interesse sei regional auch unterschiedlich. In Nordrhein-Westfalen – beim Heimatschutzregiment Münster – stünden rund 1.000 Menschen auf der Bewerbungsliste. Kapitän zur See Giss sieht sich da definitiv als Gewinner der laufenden Kampagne, wie er der Welt gegenüber klargestellt hat. Im Frühjahr hätte Hamburg die zweite Heimatschutzkompanie aufgestellt, im Herbst ginge eine dritte in den Dienst und im kommenden Frühjahr eine vierte Heimatschutzkompanie mit jeweils 120 Personen. „Rund 1.000 Menschen stehen auf unserer Gesamt-Warteliste für den Heimatschutz. Für Hamburg ist das sehr erfreulich“, wie er sagt.

In seinem Buch „Bedingt abwehrbereit“ hatte auch der Hamburger Politikwissenschaftler Carlo Masala gefordert: „Wir brauchen Strukturen, die auf Krise ausgerichtet sind.“ Heimatschützer könnten ein Teil dessen sein – ein Wehrdienst „light“, wie das Magazin Deutsche Wirtschaftsnachrichten formuliert: Mit dem Heimatschutz böte sich eine unterschwellige Ebene, auf der sich Bürger für den Wehrdienst bewerben und für ihr Land engagieren könnten, wie das Magazin formuliert. Bewerber dürfen bis 57 Jahre alt sein und müssen einen Medizin-Check sowie einen Intelligenztest bestehen.

Zum Ende des Kalten Krieges 1992 hatte der damalige deutsche Verteidigungsminister Volker Rühe (CDU) der Bundeswehr noch eine radikale Diät verordnet. Er fasste die Weltlage damals launig so zusammen: Deutschland sei „von Freunden umzingelt“. Der Kommandeur des Landeskommandos Hamburg der Bundeswehr sieht daran die Ursache der heutigen Herausforderungen, wie Michael Giss gegenüber der Welt formuliert: „Wir haben nun einmal jahrzehntelang nicht oder zu wenig darüber nachgedacht, was auf uns zukommen könnte, wenn es ein Gegner ernst meint.“

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