„Nukleares Mobbing“: Putin-Schergen schießen aus vollen Rohren – Nato reagiert mit Manöver
Mehr als 200 Drohungen mit Atomwaffen hat Russland in eineinhalb Jahren Ukraine-Krieg ausgestoßen – passiert ist nichts. Doch das ist keine Garantie.
Moskau – „Russland normalisiert einen gefährlichen Atomdiskurs“, schreibt Heather Williams. Andere Analysten kritisieren schärfer, was den Ukraine-Krieg an rhetorischem Kanonendonner seit Monaten orchestriert: „Putin verstrickt sich in seinen eigenen roten Linien“, urteilt Peter Dickinson vom Thinktank Atlantic Council. Allerdings vermuten Wissenschaft und Militärs, dass der russische Diktator lediglich blufft. Einen handfesten Beleg für nimmermüde Drohgebärden hat der Thinktank Center for Strategic and International Studies (CSIS) vorgelegt: eine Datenbank mit öffentlichen Ankündigungen des nuklearen Armageddons.
Die Analystin Williams verweist auf eine Studie des CSIS von Anfang 2024, nach der russische Politiker in mehr als 200 Fällen im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine auf den Einsatz von Atomwaffen verwiesen hätten. Mit der Eskalation des Konflikts in der Ukraine hätten auch die Drohungen an Schärfe gewonnen. Zuletzt hatte Wladimir Putin auch noch seine Atomdoktrin überarbeitet – bereits die Partnerschaft eines russischen Gegners mit einer nuklearen Macht reiche demnach, um einen atomaren Erstschlag auszulösen.
Erste „nukleare Signal“ aus Moskau zu Beginn des Ukraine-Krieges
Das ist die bisher höchste Eskalationsstufe. Übersetzt hieße das, jede nächste „rote Linie“ könnte die letzte sein. Allerdings hat Russland selbst verschuldet, der westlichen Welt keinen reinen Wein eingeschenkt und sich selbst immer wieder ad absurdum geführt zu haben. Die Welt ist verwirrt und paralysiert.
„Egal, wer versucht, uns im Weg zu stehen oder gar eine Bedrohung für unser Land und unser Volk zu schaffen, sie müssen wissen, dass Russland sofort reagieren wird, und die Konsequenzen werden so sein, wie Sie sie in Ihrer gesamten Geschichte noch nie erlebt haben. Egal, wie sich die Ereignisse entwickeln, wir sind bereit.“
Auf den 24. Februar 2022 datiert das erste „nukleare Signal“ aus Moskau: „Egal, wer versucht, uns im Weg zu stehen oder gar eine Bedrohung für unser Land und unser Volk zu schaffen, sie müssen wissen, dass Russland sofort reagieren wird, und die Konsequenzen werden so sein, wie Sie sie in Ihrer gesamten Geschichte noch nie erlebt haben. Egal, wie sich die Ereignisse entwickeln, wir sind bereit“, zitiert das CSIS den russischen Potentaten.
Im Prinzip folgte jeder handfesten Aktion des Westens eine Replik aus Russland mit einem atomaren Kern: So, als Ende Januar 2023 durch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) publik geworden war, Deutschland würde mehr als ein Dutzend Leopard 2 A6-Panzer liefern – was am gleichen Tag zu einer Meldung der russischen Nachrichtenagentur Ria Novosti führte: Derzufolge prognostizierte Konstantin Gavrilov Leopard-2-Panzer könnten zu „schmutzigen Atombomben“ werden, wie das die Ukrainska Prawda veröffentlichte.
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Leopard 2-Granaten zwingen Russland „alle sich daraus ergebenden Konsequenzen“ auf
Der Leiter der russischen Delegation in Wien beim OSZE-Forum (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) für militärische Sicherheit und Rüstungskontrolle warnte die westlichen Unterstützer Kiews, „nukleare Provokationen und Erpressungen zu fördern“, wie er kundtat. Ihm zufolge sei sich Russland bewusst, „dass der Panzer Leopard 2 sowie die Schützenpanzer Bradley und Marder mit unterkalibrigen panzerbrechenden Granaten mit Urankern bewaffnet sind, deren Einsatz zur Verseuchung des Gebiets führt, wie es in Jugoslawien und im Irak geschehen ist“. Das zwinge Russland „alle sich daraus ergebenden Konsequenzen“ quasi auf.
Zuletzt hatte Russlands Außenminister Sergej Lawrow auch die Ankunft der F-16-Kampfjets aus dem Westen dahingehend kommentiert, dass sie als mögliche Plattformen von Atomwaffen angesehen werden würden und deren Einsatz entsprechend beantwortet werde. Allerdings sind die Lieferung und deren vielleicht bereits erfolgte Einsätze folgenlos geblieben. Dafür habe Russland in den vergangenen sechs Monaten beispielsweise mit Weißrussland Militärübungen mit taktischen Atomwaffen durchgeführt und diese „in einem beispiellosen Schritt der russischen Öffentlichkeit angekündigt“, wie CSIS-Analystin Williams formuliert.
Mit der Aussicht auf einen dritten Weltkrieg hofften Putin und seine Entourage ganz offensichtlich, den Westen einzuschüchtern und die Verbündeten im Glauben zu bestärken, das Verbot von Angriffen innerhalb Russlands sei die weiterhin klügste Entscheidung für den Verbund von Nationen, die in den Krieg involviert sind ohne direkte Kriegspartei zu sein, prognostiziert Peter Dickinson. Den Wissenschaftler irritiert Diskrepanz zwischen administrativer Rhetorik und militärischer Realität der Russen.
„Offensichtliche Inkonsistenz von Putins Position lässt imperialistisches Getue erahnen“
Wenn die Vorstellung ukrainischer Luftangriffe auf russisches Territorium für Moskau tatsächlich eine rote Linie darstellte, warum habe Putin dann auf keinen Angriff mit westlichen Waffen auf das annektierte Territorium der Krim reagiert, fragt Dickinson. Inzwischen seien im Raum Kursk auch Leopard 1-Panzer der ukrainischen Armee gesichtet worden – auch da hätte eine rote Linie überschritten sein können. „Die offensichtliche Inkonsistenz von Putins Position lässt die Realität hinter seinem imperialistischen Getue während der Invasion der Ukraine erahnen“, urteilt er.
Der Einsatz von Langstreckenwaffen gegen Russlands Kernland könnte Putin zum Handeln nötigen – und wenn ihm nur daran gelegen sein sollte, den eigenen Nimbus nach innen zu verteidigen. Anfang September hatte Putin wiederholt davon gesprochen, dass solch ein Übergriff der Ukraine Russland zwinge, wie er sagte „angemessene Entscheidungen“ zu treffen, so der britische Guardian.
Nato bereitet sich darauf vor, dass das Bluffen irgendwann ein Ende hat
Was er sich sparen könnte, wenn die ersten Drohungen schon verfangen hätten. Insofern könnten die überarbeitete atomare Verfahrensrichtlinie sowie aktuelle Drohungen andeuten, dass sich der Kreml nicht Ernst genug genommen fühlt, wie Williams anführt: „Eine weitere Möglichkeit ist, dass Russland glaubt, frühere Abschreckungsversuche seien gescheitert, weil sie nicht ,groß‘ genug waren. Dies ist eine besonders gefährliche Überlegung, da es irgendwann internen und Reputationsdruck geben wird, eine rote Linie aufrechtzuerhalten“, sagt Heather Williams.
Die Nato jedenfalls bereitet sich darauf vor, dass das Bluffen irgendwann ein Ende hat. „Steadfast Noon“ heißt das aktuell laufende Manöver der der nordatlantischen Verteidigungsallianz für ein angenommenes atomares Szenario. Wie der Bundeswehr-Verband mitteilt, wird regelmäßig im Oktober geübt, wie die US-Atomwaffen sicher aus unterirdischen Magazinen zu den Flugzeugen transportiert und unter die Kampfjets montiert würden. Die zum Manöver gehörenden Flüge fänden allerdings ohne atomare Bewaffnung statt und insgesamt bestünde, laut Nato, kein Zusammenhang zwischen dem russischen Angriffskrieg und dem Manöver.
US-Regierung gefragt, mit der Nato Abschreckungssignale und Botschaften besser abzustimmen
Laut den Analysten des CSIS könnte Wladimir Putin das aber anders deuten. Offenbar weiß niemand, welche Botschaften in Moskau verfangen. Die Forderung des CSIS geht eindeutig in Richtung USA: „Die US-Regierung sollte sich vorrangig darum bemühen, ein besseres Verständnis für dieses Thema zu entwickeln. Dies würde den Vereinigten Staaten und der Nato helfen, ihre eigenen Abschreckungssignale und Botschaften besser abzustimmen“, lautet die Empfehlung.
Eine weitere Schlussfolgerung des CSIS liegt in der Konsequenz des Handelns – gerade des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz und seiner Weigerung der Lieferung des Marschflugkörpers Taurus; der Lage angepasstes Verhalten nennen das seine Militärs. Das CSIS sieht darin eher eine Schwäche, die Putin stark macht. Laut deren Analysten hätten westliche Politiker immer wieder betont, ein russischer Atomeinsatz ziehe schwere Konsequenzen nach sich – allerdings bleibt diese Drohung zu unspezfisch. Im Gegenteil müssten die Atomstaaten innerhalb der Nato und deren konventionell bewaffneten Verbündeten eine klare Strategie zum Kernwaffen-Einsatz ausarbeiten – und publizieren.
Einen Zusammenbruch der russischen Armee in der Ukraine bezeichnen die Wissenschaftler als unwahrscheinlich und sehen „keinen Grund, in naher Zukunft mit einer nuklearen Eskalation zu rechnen“, wie sie schreiben. Laut Heather Williams spielt Putin lediglich auf Zeit mit seinem „nuklearen Mobbing“ und sucht darin seinen Erfolg, wie sie vermutet: „Dazu könnte auch gehören, die Lieferung wichtiger Waffen an die Ukraine zu verlangsamen, darunter Panzer, Kampfjets und Raketen.“