„Der ganze Graben ein Krater“: Militärexperte erklärt Putins neue Taktik – und das Problem der Ukraine
Den ukrainischen Streitkräften geht im Krieg die Artilleriemunition aus. Experte Gustav Gressel warnt vor den Folgen für die russische Offensivfähigkeit.
Kiew – Die Lage an der Front im Ukraine-Krieg spitzt sich zu. Die Munitionsvorräte der ukrainischen Streitkräfte gehen langsam aber sicher zur Neige. Berichten der US-Regierung zufolge haben die ukrainischen Truppen bereits damit begonnen, ihre Artilleriemunition zu rationieren, um nicht auf dem Trockenen zu sitzen. Präsident Wolodymyr Selenskyj wirbt bei den westlichen Partnern um Unterstützung. Sollte diese nicht bald kommen, stünde die Ukraine vor einem großen Problem. Der Militärexperte Gustav Gressel, erklärt gegenüber Merkur.de von IPPEN.MEDIA die Gefahren in der aktuellen Lage.
Munitionsknappheit im Ukraine-Krieg: Militärexperte Gressel über die Folgen für Putins Taktik
„Die Ukrainer haben eine ziemlich eindeutige Feuerunterlegenheit gegenüber den Russen. Die Russen machen sich das zunutze“, sagte Gressel. Die Streitkräfte von Präsident Wladimir Putin könnten durch die Überlegenheit bei der Munition deutlich unvorsichtiger an der Frontlinie agieren. „So sieht man beispielsweise, dass sie Artillerie in den Stellungen stehen lassen und nicht abziehen, weil sie wissen, dass kein Gegenfeuer zurückkommt.“
Doch auch bei ihren Vorstößen entlang der Frontlinie könnten die russischen Streitkräfte von der aktuellen Lage profitieren. „Die neuen russischen Stoßtrupptaktiken basieren auch darauf, dass man Grabtrupps geschickt, um Gräben auszuheben, in denen dann Scharfschützen und schwere Waffen platziert werden, um die Ukrainer niederzuhalten“, erklärte der Militärexperte. „Gegen diese grabenden Leute ist es am effektivsten, mit Artilleriegranaten drauf zu schießen, die machen aus dem ganzen Graben einen Krater“, führte Gressel weiter aus. Doch genau diese Artilleriegranante sind aktuell in den ukrainischen Reihen knapp.
Die fehlenden Granaten können die ukrainischen Streitkräfte auch nur bedingt durch andere Waffengattungen ausgleichen, gibt Gressel zu bedenken. „Das ist viel effektiver als mit Drohnen, die vielleicht drei Gegner treffen, und dann kommen sofort drei weitere nach. In Zeiten von Munitionsknappheit kann man das aber nicht“, sagte der Militärexperte über den Einsatz von Artillerie gegen die russischen Stoßtrupps.
Gustav Gressel
Gustav Gressel ist Senior Policy Fellow am European Council on Foreign Relation (ECFR). Zu seinen Schwerpunktthemen gehören Russland, Osteuropa und Verteidigungspolitik. Zwischen 2006 und 2014 arbeitet der Österreicher als Referent für internationale Sicherheitspolitik und -strategie im Büro für Sicherheitspolitik des österreichischen Verteidigungsministeriums.
US-Berater warnt vor Folgen – der Ukraine geht an der Front die Munition aus
Die Dramatik der ukrainischen Munitionsknappheit unterstrich auch der nationale Sicherheitsberater von US-Präsident Joe Biden am Mittwoch (14. Februar). „Wir erhalten immer öfter Berichte über ukrainische Soldaten, denen an der Front die Munition ausgeht oder die sie sogar rationiert haben“, sagte Jake Sullivan vor Journalisten in Washington. Durch fehlende Lieferungen von Munition, Luftabwehrsystemen und anderer Ausrüstung werde die Position der Ukrainer geschwächt, betonte er.
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Mit jedem Tag stiegen für die Ukrainer auch die „Kosten der Untätigkeit“ der USA, sagte Sullivan mit Verweis auf weitere von den Republikanern im Kongress blockierte US-Hilfen für Kiew. Er forderte den Kongress auf, „schnell“ über ein neues Hilfspaket abzustimmen.
Oberbefehlshaber Syrskyj: Lage an der Front „äußerst komplex und belastend“.
Auch der neue Oberbefehlshaber der Streitkräfte Kiews im Ukraine-Krieg, Oleksandr Syrskyj, bezeichnete die Lage seiner Armee nach einem Frontbesuch als „äußerst komplex und belastend“. Syrskyj, der erst in der vergangenen Woche den bisherigen Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj abgelöst hatte, schrieb auf seinem Telegram-Account weiter: „Die russischen Besatzer verstärken weiterhin ihre Bemühungen und haben einen zahlenmäßigen Vorsprung an Personal.“
Ein folgenschwerer Verlust könnte der Ukraine in Kürze in der umkämpften Stadt Awdijiwka drohen. Russische Truppen versuchen seit Monaten unter großen Verlusten die Stadt einzunehmen. (fd mit Material von dpa)