Gendermedizin: Medizin zu sehr auf den Penis fixiert – was es damit auf sich hat
Die Schlagzeile ist plakativ und klingt, als konzentriere sich die Medizin vor allem auf das beste Stück des Mannes. Doch die Wahrheit ist ernster: Die SPD-Politikerin Sophia Schiebe spricht in der Bild von einer Medizin, die "zu penislastig" sei. Also zu sehr auf den Mann ausgerichtet. Sie fordert deshalb eine Gender-Gesundheit, die zwischen Frauen und Männern unterscheidet.
Beispiele, wie die Männerlastigkeit der Medizin konkret Frauen beeinträchtigt, gibt es viele. Da ist zum Beispiel die Frau aus Wuppertal, Mitte 60, die sich noch um die Arbeit im Haushalt kümmerte. Dann erst ums Überleben. Dabei war ihr furchtbar schlecht. Dagegen schluckte sie eine Magentablette. Auch Druck im Brustbereich spürte sie, doch der ging fast unter in der Übelkeit. Sie bügelte noch, stellte ihrem Ehemann ein warmes Abendessen auf den Tisch. Danach fuhr sie ins Krankenhaus.
Diagnose: Herzinfarkt. Die Dame sei „gut aufgeräumt, aber völlig verspätet“ gekommen, erinnert sich Prof. Dr. Petra Thürmann noch heute an den Fall. Gottlob überlebte die Wuppertalerin, allerdings mit einer bleibenden Herzschwäche. Thürmanns Schlussfolgerung: Die landläufige Auffassung, ein Infarkt äußere sich hauptsächlich in starken Brust- und Armschmerzen, kann katastrophale Missverständnisse erzeugen. Denn Frauen leiden, anders als Männer, häufig auch an Übelkeit, Schwindel, Hals-, Nacken-, Bauchschmerzen.
Kalte Füße bekommen
Als die Pharmakologin Thürmann sie später am Krankenbett besuchte, fiel ihr gleich auf, dass die Patientin ihre Beine in eine Decke eingeschlagen hatte. Weil sie kalte Füße hatte. Dass das am verabreichten Betablocker liegen könnte, der bei Frauen den Herzschlag stärker verlangsamt als bei Männern, auf den Gedanken kam die Dame gar nicht. Als die Ärztin ihre Dosierung verringerte, fror sie auch nicht mehr.
Der Fall beleuchtet zwei Themen, welche die relativ junge Disziplin der Gendermedizin seit 20 Jahren in den Griff kriegen will: dass Unterschiede zwischen Mann und Frau nicht genug berücksichtigt werden. Und dass die Medikamenten-Entwicklung zu stark auf Männer ausgerichtet ist, manche Arzneien für Frauen nicht optimal dosiert werden.
Gendermedizin arbeitet geschlechterspezifische Unterschiede heraus
Schmerzempfinden fokussieren. Denn dieses betonen auch die einschlägigen Lehrbücher. Dabei kann es passieren, dass sie die wesentlich vielfältigeren weiblichen Symptome unterbewerten.
Längst haben Gendermediziner noch viel mehr geschlechtsspezifische Unterschiede herausgearbeitet, für die sie bei den Kollegen in Praxen und Kliniken um Aufmerksamkeit werben. Die Liste der Leiden, die das betrifft, wird immer länger.
Knochenbrüche, Corona, Hitzetote Gemeinhin gilt Osteoporose als „Frauen-Krankheit“, etwa wegen des klassischen Oberschenkelhalsbruchs bei älteren Damen. Dabei leiden 30 bis 40 Prozent der Männer über 70 Jahren ebenfalls an der degenerativen Knochen- und Gelenkserkrankung. „Das wird oft erst bemerkt, wenn Männer mit Bruch im Krankenhaus liegen“, erklärt Sabine Oertelt-Prigione, Professorin für geschlechtersensible Medizin an der Universität im niederländischen Nijmegen.
Depressionen bei Männern seltener erkannt
Auch Depressionen werden bei Männern seltener erkannt. Das liege mitunter daran, „dass Männer sich schwerer tun als Frauen, bei psychischen Problemen Hilfe zu suchen“, meint Deutschlands führende Gendermedizinerin Vera Regitz-Zagrosek von der Berliner Charité. Ihre Symptome – Wut, Aggression, erhöhte Reizbarkeit – fallen zudem nicht ins Raster der oft bei Frauen festzustellenden Antriebslosigkeit.
Der Faktor Bauchfett wiederum wirkt sich für Frauen schädlicher aus, wenn sie Diabetes bekommen. Überdies entwickeln sie häufiger Autoimmunerkrankungen, etwa der Schilddrüse, aber auch rheumatische Leiden und Multiple Sklerose. Auch auf Impfungen, gegen Grippe oder Masern, reagieren sie stärker. Und selbst das Extremwetter, wie es der Klimawandel mitbringt, trifft Seniorinnen bisweilen härter als gleichaltrige Herren.
Die Wetterfühligkeit ist unterschiedlich
Etwa hohe Temperaturen: Einer Studie der Weltgesundheitsorganisation WHO zufolge starben im Hitzesommer 2003 mehr Frauen als Männer im fortgeschrittenen Alter. Dafür landen Männer bei Hustenwetter häufiger mit Grippe oder Atemwegsinfekten im Krankenhaus.
„Wir müssen raus aus dem Schema: Eine Größe passt für alle“
Marek Glezerman, Gynäkologe und Gendermediziner am Rabin Medical Center bei Tel Aviv
Von stärkerer Differenzierung würden beide Seiten profitieren. Gendermedizinerin Regitz-Zagrosek weist auf einen Zwiespalt hin: Gleichberechtigung, wie sie unsere Gesellschaft anstrebt, bedeute keineswegs, dass beide Geschlechter dieselbe medizinische Behandlung bekommen sollten. „Um Frauen und Männer gleich zu behandeln, müssen wir ihre Unterschiede anerkennen und ergründen. Gehen wir auf die Eigenschaften gezielter ein, behandeln wir alle besser“, sagt sie.
Die Dosis macht das Heilmittel
In der Pharma-Forschung ändert sich bereits vieles. Untersuchungen zufolge leiden Frauen doppelt so häufig wie Männer an unerwünschten Nebenwirkungen. Einer der Gründe: In Medikamenten-Studien sind sie tendenziell unterrepräsentiert.
Doch 2013 wies die US-Arzneimittelbehörde FDA nach, dass das Schlafmittel Zolpidem Frauen noch am Tag nach der Einnahme beeinträchtigte und damit sogar Verkehrsunfälle verursachte. Seitdem müssen Beipackzettel in den Vereinigten Staaten auf unterschiedliche Dosierungen für Mann und Frau hinweisen – generell wuchs die Aufmerksamkeit für die Problematik.
Ausgeglichenere Probanden-Panels
Auch die Behörden in der Europäischen Union drängen inzwischen darauf, dass Pharma-Hersteller in klinischen Studien ausgeglichenere Probanden-Panels bilden. „Wir müssen raus aus dem Schema: Eine Größe passt für alle“, mahnt der israelische Gendermediziner Marek Glezerman.
Ungewollte Nebenwirkungen lassen sich nicht leicht aus der Welt schaffen. Je präziser Wissenschaftler aber die Wirkstoffe erforschen und dabei die gar nicht so kleinen Geschlechter-Unterschiede einbeziehen, desto genauer lassen sich die Mittel für beide Hälften der Menschheit einsetzen.
Pionierin der Gendermedizin
Immer noch wächst das Erstaunen, wie stark die X- und Y-Chromosomen unser Wohlbefinden, aber auch unsere Krankengeschichten beeinflussen. Mit ihren Untersuchungen stieg die US-Ärztin Marianne Legato von der New Yorker Columbia University seit Ende der 1990er-Jahre zur Pionierin der Gendermedizin auf. Sie betont, wie weit der Weg noch immer ist: „Wir fangen gerade erst an, die Unterschiede zu verstehen. Wie die Gene arbeiten und was daraus für die sexuelle und soziokulturelle Identität folgt. Wir müssen noch viel mehr lernen.“
Hinweis: Der Beitrag "Gendermedizin" erschien zuerst bei FOCUS Money in der Ausgabe 47/2021.