Die SPD lebt auf großem Fuße. Sie unterhält einen Erst- und einen Zweitwohnsitz.
Als Erstwohnsitz dient das geräumige Kanzleramt von Friedrich Merz, wo man als Junior-Mieter mit unterschlüpfen konnte. Brüderlich und schwesterlich teilt man sich die weiten Flure der Regierungsmacht mit CDU und CSU.
Der Zweitwohnsitz ist enger, aber den hat man ganz für sich. Er ist gebaut aus den Steinen der sozialdemokratischen Geschichte, isoliert von den Geräuschen der Gegenwart, hier hört man gern die alten Friedenslieder: Sag mir, wo die Blumen sind.
Und so wundert es nicht, dass an diesem Zweitwohnsitz heimlich ketzerische Thesen verfasst wurden, die man über Nacht nun an das Haupthaus der Koalition genagelt hat, so wie einst der Reformator Martin Luther seine 95 Thesen an die Tür der Allerheiligenkirche in Wittenberg.
Luther brach mit der herrschenden Lehre der katholischen Kirche. Das jetzt veröffentlichte Manifest von mehr als 100 SPD-Politikern bricht mit der herrschenden Außenpolitik der Großen Koalition.
SPD-Linke träumt von Rückkehr zu Entspannung mit Kriegstreiber Putin
Darum geht’s: In dem sechsseitigen Papier „Friedenssicherung in Europa durch Verteidigungsfähigkeit, Rüstungskontrolle und Verständigung“ fordern die Genossen eine Abkehr von der SPD-geführten Verteidigungspolitik. Sie wünschen sich eine „Friedenspolitik mit dem Ziel gemeinsamer Sicherheit“. In dem Text heißt es:
"In Deutschland und in den meisten europäischen Staaten haben sich Kräfte durchgesetzt, die die Zukunft vor allem in einer militärischen Konfrontationsstrategie und hunderten von Milliarden Euro für Aufrüstung suchen.“
Der auch von Lars Klingbeil und Boris Pistorius eingeschlagene Weg bedeute „reine Abschreckung ohne Rüstungskontrolle“ und mache Europa nicht sicherer.
Was es braucht, sei der Ausgleich mit Kriegsherr Wladimir Putin oder wie es in dem Papier heißt, eine „schrittweise Rückkehr zur Entspannung der Beziehungen und eine Zusammenarbeit mit Russland“ inklusive der „behutsamen Wiederaufnahme diplomatischer Kontakte“.
Kritik richtet sich vor allem gegen die SPD-Parteispitze
Die Kritik richtet sich vor allem an die SPD-Spitze. Gegen Vizekanzler, Finanzminister und SPD-Parteichef Klingbeil und Verteidigungsminister Pistorius wird zum Frontalangriff geblasen:
„Militärische Alarmrhetorik und riesige Aufrüstungsprogramme schaffen nicht mehr Sicherheit für Deutschland und Europa, sondern führen zur Destabilisierung und zur Verstärkung der wechselseitigen Bedrohungswahrnehmung zwischen Nato und Russland.“
Daher sei auch eine Erhöhung des Verteidigungshaushalts auf 3,5 Prozent oder gar fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts nichts anderes als: „irrational“.
Die Drahtzieher: Zu den Unterzeichnern zählen Partei-Linke wie Ralf Stegner und Ex-Fraktionschef Rolf Mützenich – die beide bereits in der Vergangenheit eine diplomatische Wende in der Russland-Politik gefordert hatten. Aber auch Ex-Bundesfinanzminister Hans Eichel – eher ein Vertreter der rechten SPD – und Ex-Parteichef Norbert Walter-Borjans finden sich unter dem Text. Auch der ehemalige SPD-Kulturstaatsminister und Philosoph Julian Nida-Rümelin hat unterzeichnet.
Willy Brandts Entspannungspolitik als Blaupause
Das historische Hinterland: Die Entspannungspolitik von Willy Brandt, die Aufrüstung und militärische Drohung mit Gesprächsdiplomatie verband, dient den Unterzeichnern als Blueprint auch für die Gegenwart. Brandts Überzeugung: Die Aussöhnung mit dem Ostblock kann nur durch Annäherung gelingen. In seiner Regierungserklärung 1969 sagte er:
"Das deutsche Volk braucht den Frieden im vollen Sinne dieses Wortes auch mit den Völkern der Sowjetunion und allen Völkern des europäischen Ostens.“
Auf der anderen Seite: Brandt, Bahr und die SPD-Verteidigungsminister jener Jahre – Georg Leber, Hans Apel und Helmut Schmidt – waren nicht naiv. Man investierte in den Jahren von 1969 bis 1974 mehr als drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die Bundeswehr. Mehr als Merkel und Scholz.
Man musste damals kein Linker sein, um für die Entspannungspolitik zu werben. Insbesondere Helmut Schmidt – der in der Brandt-Nachfolge ins Kanzleramt einzog – teilte die sozialdemokratische Grundüberzeugung einer Dualität von Drohung und Diplomatie:
"Sicherheitspolitik ist nur die eine Seite der Allianz-Medaille. Die andere Seite ist die Entspannungspolitik nach Osten. Entspannung ist dabei allerdings kein Ersatz für Sicherheit, sondern ihre Ergänzung.“
Von Dohnanyi fordert Rüstung und Diplomatie
Brandt und Schmidt sind verstorben, die Mitstreiter von damals nicht alle. Klaus von Dohnanyi, der damals jüngste Minister im Kabinett Brandt und später auch Minister im Kabinett von Schmidt, blieb seiner Grundüberzeugung treu.
Im Gespräch mit The Pioneer begründete er erst kürzlich seine ablehnende Haltung gegenüber der Regierungspolitik.
„Die Außenpolitik müsste auf zwei Beinen stehen: auf dem der Sicherheit – also Rüstung und Aufbau einer Wehrfähigkeit, wie sie noch immer nicht in vollem Umfang besteht – und auf dem Versuch einer Sicherheitspolitik, die aus Diplomatie und Interessenausgleich besteht.“ Das Erbe von Willy Brandt sei verraten worden – „und zwar auch schon in der Zeit von Olaf Scholz“.
Und dann schnappte sich von Dohnanyi den SPD-Verteidigungsminister und fuhr schwere Geschütze gegen ihn auf:
"Haben Sie den Kollegen Boris Pistorius jemals darüber sprechen gehört, dass auch Diplomatie ein Sicherheitsfaktor ist? Sie hören ihn nur, wenn es um Kanonen, Panzer oder Ausgaben für die Rüstung geht.“
Gutes Timung für SPD-Thesenpapier vor Parteitag und Nato-Gipfel
Das Timing für die Debatte ist gut gewählt. Die SPD steht Ende Juni vor einem Bundesparteitag. Fast zeitgleich findet der Nato-Gipfel statt, auf dem sich Deutschland dazu verpflichten dürfte, die Verteidigungsausgaben massiv zu erhöhen.
Die Parteiführung tauchte gestern vorsichtshalber weg. Verteidigungsminister Pistorius bezeichnete das Papier als „Realitätsverweigerung“. Man könne mit Putin „nur aus einer Position der Stärke verhandeln“. Fraktionschef Matthias Miersch äußerte sich gelassen: „Das ist legitim, auch wenn ich zentrale Grundannahmen ausdrücklich nicht teile.“ Was man so sagt, wenn man eine Debatte beenden will.
Die Glut der SPD-Parteispaltung vor erstem Weltkrieg glüht weiter
Fazit: Die Thesen von Martin Luther haben zur Kirchenspaltung geführt, so wie die Bewilligung der Kriegskredite und die Zustimmung der SPD zum Kriegseintritt des Deutschen Reiches 1914 zur Abspaltung der USPD (Unabhängige Sozialdemokratische Partei) von der Mutterpartei SPD führten.
So weit sind wir heute nicht. Aber die Glut von damals glüht wieder. Viele Genossen fühlen sich durch die Aufrüstungspolitik und Anti-Russland-Rhetorik der eigenen Minister provoziert. Sie empfinden heute, was damals der SPD-Abspalter Eduard Bernstein, der große antimarxistische Theoretiker der SPD, auch gefühlt hatte: „Man hat uns die Parteidisziplin aufgezwungen – aber die Parteiseele dabei zerstört.“