37 Behörden, null Plan: Berlin versagt beim Katastrophenschutz

„Überfordert“ und „verwahrlost“ (Schauspieler Henry Hübchen), „einfach peinlich“ (TV-Satiriker Oliver Kalkofe), „mittelmäßig und griesgrämig“ (Ex-„Bild“-Chef Kai Diekmann) – die Urteile prominenter Zeitgenossen über Berlin fallen wenig schmeichelhaft aus. 

Seinen ramponierten Ruf hat sich die deutsche Hauptstadt redlich verdient. Man denke an das berüchtigte Ämter- und Verkehrs-Chaos, irre Wahlpannen, das Flughafen-Desaster, an verrottende Schulen und Clan-Kriminalität.

Bericht enthüllt Mega-Schlamperei, die fatale Folgen haben kann

Viele Missstände nehmen die Berliner mittlerweile achselzuckend hin. Doch nun enthüllt ein Bericht eine Mega-Schlamperei, die weit über den bedenklichen Zustand der Berliner Verwaltung hinausgeht. Die Rede ist vom Schutz der 3,9 Millionen Einwohner in Krisenlagen, besser gesagt: um deren Nicht-Schutz.

Der Berliner Landesrechnungshof hat in seinem Jahresbericht 2025 amtlich bestätigt, dass sich die Menschen in Extremfällen lieber nicht auf den Berliner Katastrophenschutz verlassen sollten. Etwa bei Pandemieausbrüchen, Terroranschlägen und Cyberangriffen auf die Infrastruktur. Oder bei einem großflächigen Ausfall von Strom-, Wasser- und Computernetzen, dem Zusammenbruch des Nahverkehrs und so weiter. 

Grund: In seinem jetzigen Zustand ist das behördliche Helfer-Netzwerk nur bedingt einsatzbereit. Das beweist ein Kernsatz im soeben veröffentlichten Rechnungshof-Bericht, den man sich auf der Zunge zergehen lassen muss: „Von den 37 zuständigen Behörden wussten fünf nicht einmal, dass sie Teil des Katastrophenschutzes sind.“

Rechnungshof prüft Katastrophenschutz: Vernichtendes Fazit

Die Einschätzung klingt vernichtend. Und je tiefer man in die Materie eindringt, desto mehr fragt man sich: Wie konnten sich solche Zustände herausbilden? Und warum haben die Verantwortlichen der größten deutschen Stadt nichts dagegen unternommen?

Zum Verständnis: Bereits vor vier Jahren, 2021, ist das Katastrophenschutzgesetz in Berlin neu gefasst worden. Hintergrund waren mehrere Großschadenslagen: der mörderische Terroranschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt 2016, der Stromausfall über mehr als 30 Stunden im Bezirk Treptow-Köpenick mit 70.000 Betroffenen und die Anfang 2020 ausgebrochene Covid-19-Pandemie mit vielen Toten und Kranken.

Jetzt hat der Rechnungshof geprüft, wie es um die Organisation des landesweiten Katastrophenschutzes bestellt ist. Das Fazit ist erschreckend. Die eingebundenen Behörden seien „organisatorisch und personell nicht ausreichend auf Katastrophen und Großschadensereignisse vorbereitet, zentrale Vorgaben des Gesetzes werden nicht erfüllt“, steht im Bericht der Experten für das Jahr 2025.

Fünf Behörden wissen nicht, dass sie Teil des Systems sind

„Nicht ausreichend vorbereitet“, das ist eine einigermaßen freundliche Umschreibung für die eklatanten Lücken im Berliner System. Dabei ist der Katastrophenschutz eine staatliche Pflichtaufgabe. Hier einige Fakten, die der Bericht aufzählt:

  • Von den 37 zuständigen Behörden wussten fünf nicht einmal, dass sie Teil des Katastrophenschutzes sind.
  • Diese fünf Behörden nahmen zwischen 2021 und 2023 an keiner der insgesamt zwölf Sitzungen der Katastrophenschutzbeauftragten teil.
  • Die für Inneres zuständige Senatsverwaltung hatte die fünf Katastrophenschutzbehörden zwar regelmäßig zu Sitzungen eingeladen, die Abwesenheit jedoch nie hinterfragt oder aufgeklärt.
  • Einige Behörden sahen sich nicht einmal als Berliner Katastrophenschutzbehörden, weil sie aufgrund von Staatsverträgen auch für das Land Brandenburg zuständig sind und unklar blieb, ob für sie die Berliner Vorgaben gelten oder nicht.
  • Mehrere Katastrophenschutzbehörden – konkret eine Bezirksverwaltung, sieben Senatsverwaltungen und sieben nachgeordnete Behörden – hatten für das Jahr 2024 keinerlei finanzielle Mittel vorgesehen. Ähnlich war die Situation in den zwei Jahren davor.
  • Bei drei Senats- und Bezirksverwaltungen waren die Stellen des Katastrophenschutzbeauftragten unbesetzt.
  • Einen Katastrophenschutzplan, wie er im Gesetz vorgeschrieben ist, hat laut Abfrage des Rechnungshofs nicht mal ein Drittel der zuständigen Behörden, eine Gefährdungsabschätzung nur jede sechste.
  • Eine Bezirks- und drei Senatsverwaltungen sowie die Hälfte der nachgeordneten Behörden gaben an, keinen Krisenstab vorzuhalten. Krisenstäbe haben im Ernstfall die Aufgabe, Abwehrmaßnahmen zu koordinieren und relevante Lageinformationen zu verteilen.

Erschreckende Defizite gibt es auch bei sogenannten Katastrophenschutz-Leuchttürmen. Damit sind lokale Anlaufstellen für die Bevölkerung in Krisensituationen gemeint. Es soll sie in jedem Bezirk geben – mal stationär (etwa in Rathäusern), mal mobil als spezielle Fahrzeuge. Laut Rechnungshof verfügt nur ein Bezirk sowohl über einsatzbereite mobile als auch über stationäre Katastrophenschutz-Leuchttürme. Den anderen Bezirken fehlt es am Geld.

Helfer: "Mahnende Hinweise werden konsequent weggeatmet"

Insgesamt übt der Rechnungshof heftige Kritik an der Senatsinnenverwaltung, die für die Koordinierung des Katastrophenschutzes zuständig ist. Die Prüfer kommen zu dem Schluss, die politisch Verantwortlichen würden der „Bedeutung und Dringlichkeit des Themas nicht gerecht“. Sie hätten „die zahlreichen Defizite bei der Katastrophenvorsorge nicht erkannt“ und folglich auch nicht behoben.

So diplomatisch will sich ein Experte, der von den chaotischen Zuständen unmittelbar betroffen ist, nicht ausdrücken. 

„Berlin kennt seine gesetzlichen Verpflichtungen bezüglich des Katastrophenschutzes seit Jahrzehnten, erfüllt sie aber bis heute unzureichend. Strukturelle Defizite, fehlendes Fachpersonal, diffuse Koordinierung und die Fixierung auf wochenendbeschulte Universalbeamte oder die dauerüberlastete Berliner Feuerwehr verhindern, dass das staatliche Schutzversprechen erfüllt wird“, so ein ehrenamtlicher Katastrophenhelfer zu FOCUS online. 

Während die 3,9 Millionen Einwohner darauf vertrauten, dass die Berliner Verantwortlichen für den Krisenfall gut gewappnet sind und entsprechende Ressourcen vorhalten, seien die Defizite unter den Helfern seit langem bekannt. „Doch mahnende Hinweise werden konsequent weggeatmet“, klagt der erfahrene Krisenmanager.

Arbeitskreise und Projektgruppen, die am Ende nichts bringen

Schon 2001 habe der damalige Innensenator Ehrhart Körting (SPD) die Dringlichkeit eines gut funktionierenden Bevölkerungsschutzes angemahnt und festgeschrieben. „Doch die Gesetze werden praktisch nicht gelebt und seit 23 Jahren von Ablage zu Ablage verfügt“, kritisiert der Experte. „Statt endlich vorhandenes Expertenwissen in der Stadt zu bündeln und Berlin binnen weniger Monate konzeptionell auf Stand zu bringen, bleibt man im alten Trott stecken – und macht jahrelang gelebte Praxis de facto zum Gesetz.“

Wo man klare Entscheidungen und verbindliche Regelungen zum Wohl der Bürger treffen könnte, setze man seit Jahren Arbeitskreise und Projektgruppen ein, die am Ende nichts bringen, sondern nur Geld verschlingen. „Genau diese Gewohnheitsverwaltung sorgt dauerhaft für rechtliche Unklarheiten, gelebte Verantwortungsdiffusion und vermeidbare Spannungen“, moniert der Katastrophenhelfer im Gespräch mit FOCUS online. 

Sein bitteres Fazit: „Berlin ist derzeit strukturell hoch verwundbar – nicht, weil Wissen fehlt, sondern weil man es nicht nutzen will oder nicht weiß, wie.“

Innensenat lobt "Anstrengung und Leistung" der Verantwortlichen

Die Berliner Innenverwaltung hat zu den Recherchen des Rechnungshofs eine Stellungnahme verfasst. Darin heißt es, man wolle seiner Koordinierungsfunktion „künftig intensiver nachkommen“. Außerdem sei man sich darüber im Klaren, dass der Katastrophenschutz „einer weitergehenden Stärkung“ bedürfe. 

Kritik im Detail wollten die Verantwortlichen nicht gelten lassen. Stattdessen verwiesen sie auf „die Vielzahl an gemeinsam entwickelten Maßnahmen und Konzepten“ für Krisenlagen. Das belege „die Anstrengung und Leistung der jeweiligen Beschäftigten für den Katastrophenschutz im Land Berlin“.