Gleichberechtigt?! – Über die Situation von Frauen mit Behinderung
Der Bewegte Donnerstag in Kempten thematisierte kürzlich anlässlich der Frauen Aktionstage die Situation von Frauen mit Behinderung.
Kempten – „Man fühlt sich wie eine Außerirdische“, sagte die 24-jährige Studentin Jacqueline C. Würlich beim Podiumsgespräch am Bewegten Donnerstag. Sie war von der Gleichstellungsstelle und der Inklusionsbeauftragten im Rahmen der Frauen Aktionstage 2024 eingeladen worden, um aus ihrem Leben als Rollstuhlfahrerin zu erzählen. Mit dabei war auch Dunja Robin, geboren 1985, aus Regensburg, die von ihren Erfahrungen als berufstätige Frau mit einer körperlichen Behinderung berichtete.
Bewegter Donnerstag zum Thema Frauen mit Behinderung: viel sexualisierte Gewalt und Diskriminierung
Der Einstieg erfolgte allerdings auf wissenschaftlicher Ebene, denn aus Nürnberg online zugeschaltet war die Kriminologin und Soziologin Dr. Maria Arnis. Ihre Forschungsschwerpunkte sind unter anderem sexualisierte Gewalt gegen Frauen und Gewaltbetroffenheit von Menschen mit Behinderung in Einrichtungen. Arnis‘ Erhebungen zufolge erlebt jede zweite bis dritte Frau mit Behinderung sexuelle Gewalt und sie alle sind einem hohen Maß an Diskriminierung ausgesetzt.
So mangelt es ihnen etwa an Sicherheitsgefühl im Kontakt mit Pflegekräften, oft fehlt die Achtung ihrer Privat- und Intimsphäre, sie werden unzureichend in Entscheidungen einbezogen und es gibt zu wenig unabhängige Beschwerdestellen und Kontrollen.
Aus diesen erschreckenden Zahlen hat die Fachfrau Empfehlungen für Praxis und Politik erarbeitet. Dazu zählen unter anderem eine bessere personelle Ausstattung der Hilfeeinrichtungen, „gelebte“ Gewaltschutzkonzepte, ständige Reflexion der Konzepte, die Wegweisung von Tätern sowie Aufklärung über die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen. Dieses Übereinkommen schreibt fest, dass die Menschenrechte und Grundfreiheiten auch für Menschen mit Behinderung gelten, dass sie vor Gewalt geschützt werden müssen und ein Recht auf Teilhabe an der Arbeitswelt und am kulturellen Leben haben.
UN-Behindertenrechtskonvention: Deutschland ist noch nicht sehr weit
Dunja Robin hat nach Umwegen und Jahren der Arbeitslosigkeit in der professionellen Beratung und Unterstützung von Frauen und Mädchen mit Behinderung in Bayern ihre Bestimmung gefunden. Sie ist heute Leiterin des Netzwerks. Robin lebt seit ihrem zweiten Lebensjahr mit der Diagnose „Spinale Muskelatrophie“, konnte dank des Einsatzes ihrer Eltern das Abitur machen und dann ein Studium der Sozialen Arbeit absolvieren. Sie verweist darauf, dass Deutschland, was die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention der UN angeht, noch nicht so weit ist, wie es sein sollte und fürchtet angesichts multipler Krisen eher einen Rückschritt: „Wir müssen aufpassen, dass das, was wir erreicht haben, nicht wieder zerschlagen und so das soziale Miteinander gefährdet wird.“
Für Würlich aus Coburg, die seit Oktober 2023 mit Hilfe von Assistenzkräften an der Hochschule in Kempten Soziale Arbeit studiert, ist das Thema Gesundheitsversorgung ein Dauerbrenner. Sie leidet an einer seltenen Muskelerkrankung und ist deshalb seit 2014 im Alltag auf einen (Elektro-)Rollstuhl angewiesen. Würlich sieht sich mehrfach diskriminiert, nämlich als mobilitätseingeschränkte Person und als Frau. So sind beispielsweise Arztpraxen selten barrierefrei und sie muss für die gynäkologische Versorgung oft weite Wege zurücklegen.
„Wir können anderen etwas geben“
Überhaupt ist Mobilität ein schwieriges Thema für sie. Die Stadt Kempten erlebt die junge Frau als weniger barrierefrei als München. Sie kann kein Leben wie andere Gleichaltrige führen und die spannende Zeit des Studienbeginns nur mit extremem Organisationsaufwand bewältigen. Spontanes Reisen ist ihr versagt, die Deutsche Bahn schmälert ihre Selbstbestimmung, die Abhängigkeit von der Hilfe anderer Menschen ist groß und belastend. Ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen versuchen zwar redlich, ihr Teilhabe zu ermöglichen, dennoch fühlt sie sich manchmal als Last.
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Beide, Robin und Würlich, betonen, dass sie nicht nur Bittstellerinnen sein wollen, vielmehr auch anderen etwas geben und anderen helfen können. Schließlich sind sie Expertinnen in Sachen Lebensbewältigung.
Nach ihren Vorbildern gefragt, nennt Robin die verstorbene Gründerin des Netzwerks, Würlich den Astrophysiker Stephen Hawkins, der eine starke Ausstrahlung hatte und sich nicht auf seine körperliche Behinderung reduzieren ließ.
Inklusionsplan wird zu langsam umgesetzt
Und wie steht es in Kempten mit der Inklusion von Menschen, die körperlich oder geistig beeinträchtigt sind? In der Diskussionsrunde mit dem Publikum beklagte sich eine Teilnehmerin bitter darüber, dass der seit 2016 vorliegende kommunale Inklusionsplan viel zu langsam umgesetzt wird.
Am Ende der beeindruckenden Veranstaltung gab es starken Applaus für die Gäste auf dem Podium. Er war wohl auch Ausdruck der Bewunderung für ihre psychische Stärke und Lebensleistung. Die Gespräche wurden über anderthalb Stunden hinweg von einer Gebärdensprachdolmetscherin übersetzt – auch das eine große Leistung.
Einen Bewegten Donnerstag der Situation von Frauen mit Behinderung zu widmen, war die Idee der Gleichstellungsbeauftragten Katharina Simon, die die Museumsleiterin Christine Müller Horn gern aufgegriffen hat. Sie stellte eingangs fest, dass das Kempten-Museum zwar als barrierefreies Haus für alle zertifiziert sei, für Menschen im Rollstuhl aber doch noch Hindernisse aufweise. So hatten sich für die Veranstaltung einige mobilitätseingeschränkte Personen mehr angemeldet, die jedoch keinen Platz bekamen, da aus Brandschutzgründen nur vier Rollstühle zugelassen sind.
Barrieren abbauen – auch im Kleinen
Der kommunalen Inklusionsbeauftragten, Eva Lagerbauer, obliegt es, die Dinge spürbar voranzubringen. Robin und Würlich, die beiden Frauen mit Behinderung, wünschen sich aber, dass sich jede und jeder Einzelne fragt: Was kann ich tun, um Barrieren abzubauen?
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