Niedriglohnsektor schrumpft weiter: Deutschland schneidet im EU-Vergleich trotzdem schlecht ab
Der Niedriglohnsektor in Deutschland ist im EU-Vergleich weiterhin auf hohem Niveau. Für betroffene Branchen fordern Experten daher eine stärkere Tarifbindung.
Wiesbaden – Der Niedriglohnsektor und die Kluft zwischen Gering- und Besserverdienern hat sich in Deutschland weiter verringert. Im April 2024 arbeitete jeder sechste Erwerbstätige in Deutschland unter der Niedriglohnschwelle von 13,79 Euro brutto stündlich – also 16 Prozent der derzeit etwa 45 Millionen Erwerbstätigen, wie das Statistische Bundesamt (Destatis) mitteilt. Von April 2014 bis April 2024 sank damit die Beschäftigung im Niedriglohnsektor um 1,3 Millionen auf 6,3 Millionen.
Im Osten fiel der Anteil zumal stärker als im Westen des Landes: „Die Menschen dort haben vom Mindestlohn und von der veränderten Lohnpolitik überproportional profitiert“, sagte Markus Grabka vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) der F.A.Z. In den neuen Bundesländern halbierte sich die Anzahl auf 18 Prozent, während im Westen die Wert um drei Prozentpunkte auf 16 Prozent fiel.
Wer gehört zum Niedriglohnsektor?
Als Niedriglohnsektor werden jene Beschäftigungen bezeichnet, in denen Beschäftigte weniger als zwei Drittel des Medianbruttoverdienstes – also der Zentralwert, bei dem 50 Prozent darüber und 50 Prozent darunter liegen – verdienen. Zur Berechnung wird der Stundenlohn herangezogen, der Verdienst liegt dabei in der Mitte aller Einkommen – aktuell bei 20,68 Euro. Zu unterscheiden ist dieser Wert von dem Durchschnittseinkommen: Im April 2024 lag der durchschnittliche Bruttostundenverdienst bei 27,28 Euro, der Bruttomonatsverdienst bei 4.634 Euro. Dabei wurde darauf hingewiesen, dass sich lediglich ein Drittel der Beschäftigten mehr verdient als der Schnitt – zwei Drittel liegen darunter.
Von Niedriglöhnen betroffen sind laut Destatis häufig Frauen, Menschen unter 25 und über 64 Jahren oder Arbeitnehmer ohne Berufsausbildung. Auch atypische Beschäftigungen, wie Teilzeit oder befristete Verhältnisse zählen häufig dazu – die größte Gruppe der Niedriglohnempfänger bilden derweil Minijobber. Branchen wie das Gastgewerbe, die Land- und Forstwirtschaft oder die Kunst- und Unterhaltungsbranche zählen zu den Zweigen mit dem höchsten Niederlohnanteil.
„Im Gastgewerbe arbeitet hierzulande jede und jeder zweite Beschäftigte zu einem Niedriglohn, im Handel ist es ein Viertel. Das sind genau die Branchen, in denen sich die Arbeitgeber aus der Tarifbindung verabschiedet haben – und der Wettbewerb dann im Zweifelsfall auch auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen wird“, sagte Sozial-Forscher der Malte Lübker von der Hans-Böckler-Stiftung der Evangelischen Zeitung.
Einführung des Mindestlohns zeigt positive Auswirkung auf Löhne
Nach Ansicht von Ökonomen war besonders die Einführung des Mindestlohns im Jahr 2015 für die stetige Verringerung des Niedriglohnsektors verantwortlich. Der Anteil in Deutschland ist jedoch weiter relativ hoch, was aus sozio-ökonomischer Sicht als soziales Problem angesehen wird. Im EU-Vergleich sieht Deutschland allerdings schwach aus: „Die nordischen Länder, aber auch Frankreich und Italien machen das besser“, kommentierte Lübker die Ergebnisse.

Der Niedriglohn spielt nach Ansicht einiger Experten jedoch eine wichtige Rolle beim sozialen Aufstieg. Nach Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) verringerte sich die Armutsgefährdung nach Eintritt in den Niedriglohnsektor um ein Viertel. „Dennoch bleibt das Problem, dass Beschäftigte im Niedriglohnsektor oft im niedrigen Lohnsegment verharren“, so DIW-Ökonom Markus Grabka.
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Laut aktuellen Zahlen des Statistischen Bundesamtes hat sich auch der Abstand zwischen Gering- und Besserverdiener verringert: Im April 2014 erhielten Besserverdienende (39,05 Euro brutto pro Stunde) das 3,48-fache des Bruttoverdienstes von Geringverdienern (13,00 Euro brutto pro Stunde), 2024 war es dann das 3-fache. Auch hier spielt der Mindestlohn eine Rolle: Denn viele Unternehmen haben aufgrund der Lohnzuwächse im unteren Lohnspektrum auch Löhne knapp über dem Mindestlohn erhöht.
Deutschlands Fachkräfteproblem: Lohnsteigerungen können Wettbewerb befeuern
Weiterhin ist anzumerken, dass sich trotz anhaltenden Fachkräftemangels die Gehälter in Deutschland nicht sonderlich erhöht haben. Laut Deutschem Gewerkschaftsbund (DGB) stiegen die Tariflöhne 2024 preisbereinigt um 3,2 Prozent. Betrachtet man allerdings die Inflationsentwicklung liegen diese auf dem Niveau des Jahres 2018, noch immer unter dem Spitzenwert 2020. Deutschland hat im OECD-Vergleich seit Beginn der Pandemie mit dem stärksten Reallohnrückgang zu kämpfen. Demnach sanken diese von 2019 bis zum ersten Quartal 2024 um zwei Prozent, während sie im OECD-Durchritt um 1,5 Prozent wuchsen.
Häufig wird mit der Lohn-Preis-Spirale argumentiert: Steigende Löhne führten zu steigen Preisen – jedoch hat eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung ermittelt, dass steigende Gewinnmargen für die Inflationsentwicklung verantwortlich gewesen seien. Denn obwohl die Löhne steigen, ist ein stetiger Rückgang der Inflation zu verzeichnen. Auch die Bundesbank sah keine Anzeichen einer Lohn-Preis-Spirale.
Das Zentrum für politische Bildung hält politische Maßnahmen zur Verbesserung der Löhne und Arbeitsbedingungen für geeignet, um den Wettbewerb um Arbeitskräfte zu stärken. Beispielsweise mittels der Stärkung der Transparenz von Entgeltunterschieden bei verschiedenen Arbeitgebern, d. h. dass Löhne bei Stellenausschreibungen mit ausgeschrieben werden sollten.