"Wenn das so weitergeht, gewinnt Putin": Ukraine an der Front erheblich unter Druck
Am Freitag sollen sich US-Präsident Donald Trump und Russlands Präsident Wladimir Putin zu einem Gipfel für einen möglichen Waffenstillstand in der Ukraine treffen. Erwartet wird, dass der Druck auf die Ukraine enorm steigen könnte, auch ein Diktat aus Washington und Moskau entgegenzunehmen. Die Lage an der Front ist derweil angespannt. Russland rückt an einigen Abschnitten vor. Kiew reagiert mit immer neuen Ideen auf die Herausforderungen bei der Verteidigung gegen den russischen Angriff - aber es gibt ein großes Problem.
Russen im Donbass auf dem Vormarsch
Am stärksten geraten die ukrainischen Verteidiger derzeit in der Region Donezk unter Druck. Bei Dobropilja in der Region Donezk haben die russischen Truppen eine Bresche in die ukrainische Verteidigung geschlagen. Die ukrainischen Linien dort waren noch nicht fertig, so Gustav Gressel, Hauptkehroffizier an der Landesverteidigungsakademie Österreichs in Wien. Zwar schaffe die Ukraine jetzt Reserven heran, die Russen jedoch machen erheblichen Druck. In den kommenden Tagen könnten sie die Bresche konsolidieren.
Neben der unmittelbaren Gefahr für die ukrainischen Befestigungen um Pokrowsk, Myrnohrad und Kostjantyniwka drohen noch schlimmere Folgen. "Siwersk, Kramatorsk und Slowjansk sind dann bredroht", so Gressel. Besonders die letzten beiden sind die wichtigsten verbliebenen Bevölkerungszentren im Donbass und bisher noch weit genug weg von der Front.
Doch Russland wolle nicht einzelne Dörfer oder Städte erobern, so der Militärexperte. "Der Zweck der Offensive ist anderer Natur: die Ukraine langfristig zu erschöpfen, bis der organisierte militärische Widerstand generell zusammenbricht." Gressel hat dafür ein ernüchterndes Fazit: "Ich fürchte, da sind die Russen leider auf Kurs." Besonders der Vormarsch auf die Städte Saporischschja und Dnipro macht dem Experten sorgen. Russische Truppen könnten bis auf die Reichweite von FPV-Drohnen auf die Städte heranrücken. "Dann wird es ernst", so Gressel. Das werde aber, wenn überhaupt, erst 2026 der Fall sein.

Ukraine erobert Dörfer in Sumy zurück
An anderen Frontabschnitten hingegen hat die Ukraine russische Offensiven abgewehrt. So sei der russische Vormarsch im Norden und Osten der Region Charkiw mehr oder weniger gestoppt. Und auch die Offensive, mit der Putin nach der ukrainischen Kursk-Offensive im vergangenen Jahr eine Pufferzone in der ukrainischen Region Sumy schaffen wollte, ist wohl gescheitert.
Der ukrainische Oberkommandierende Oleksandr Syrskyj vermeldete die Befreiung zweier Dörfer und betonte laut "Reuters" nach einem Treffen mit Präsident Wolodymyr Selenskyj, dass es zwar schwer sei, aber die ukrainischen Truppen den "Feind" zurückhalten könnten. "Wir setzen in Richtung Sumy gezielte Militäroperationen um und haben einige Erfolge bei der Rückeroberung unseres Landes erzielt", schrieb Syrskyj auf Facebook.
Drohnenkrieg wird zunehmend auch für Ukraine zum Problem
Für die Ukraine wird jedoch zum Problem, dass Russlands Militär mittlerweile den Vorsprung der Ukraine bei der Drohnentechnik ausgleichen konnte. "Auch dank chinesischer Unterstützung steigen die Produktionszahlen an allen Ecken und Enden", erklärt Militärexperte Gressel. Drohnenfabriken seien oft weit entfernt von der Front platziert. Die Ukraine hätte Probleme, diese anzugreifen. Mittlerweile würden die Russen die Drohnentaktiken der Ukrainer gegen sie anwenden.
Entlang der ukrainischen Front sind wegen des Drohnenkrieges die meisten wichtigen Straßen mit Netzen gesichert. Auch Fahrzeuge werden auf beiden Seiten im Krieg mit Abwehrsystemen ausgerüstet. Durch den weitverbreiteten Einsatz der Drohnen entlang der Front werden aber immer weniger Fahrzeuge eingesetzt. Laut von unabhängigen Experten gezählten Verlusten wurden im Juni 22 russische Panzer abgeschossen, im Juli waren es nur noch 19. Im Jahr zuvor betrugen die russischen Verluste noch 116 bestätigte Panzerabschüsse im Juni 2024 und 97 im Juli 2024, wie das Institute for the Study of War berichtet.
Kiew plant "Drohnenmauer" gegen russische Angreifer
Bei den Verteidigern sorgen die Drohnen auch für erhebliche logistische Schwierigkeiten. "Die Ukraine hat zunehmend Probleme, ihre Soldaten abzulösen, zu versorgen, und vor allem Verwundete zu evakuieren", erklärt Militäranalyst Gressel.
Jedoch arbeiten die Ukrainer gerade an einer lückenlosen Vernetzung aller Drohneneinheiten. Die sogenannte "Drohnenmauer" soll dabei Angriffe russischer Drohnen an der Front abwehren. Zudem wurden Abfangdrohnen gegen russische Überwachungsdrohnen und Luftangriffe getestet und werden mittlerweile verwendet. In den letzten Wochen verstärkte die Ukraine zudem wieder Luftangriffe auf russische Ölanlagen.

Russische Verlustraten im Vergleich zur Ukraine sinken
Gleichzeitig kommt das Problem der mangelnden Mobilisierung in der Ukraine immer stärker zum Tragen. Die russischen Verluste sind zwar immer noch enorm. "Aber niemand mit Kenntnis der Datenlage in der Ukraine bestreitet, dass das Verlustverhältnis derzeit über 3 zu 1 ist", erklärt Gressel. Das bedeutet: für drei russische Soldaten verliert die Ukraine einen Soldaten.
Vermutlich sei das Verhältnis trotz massiver Angriffe der Russen aber eher noch geringer. Da beginnt auch das Problem der zahlenmäßigen Unterlegenheit der Ukraine mehr zu greifen. "Russland hat viermal so viel Leute, aber verliert nur wenig mehr als doppelt so viel Soldaten wie die Ukraine. Wenn das länger so weitergeht, gewinnt Putin", warnt Gressel.
Europa unterstützt nicht konsequent genug
Um das zu verhindern, brauche es nach wie vor eine konsequente Unterstützung für das angegriffene Land. "Leider hapsen die Europäer Trumps Verhandlungsbemühungen nach. Anstatt sich zu fragen, wie die Ukraine das Ruder militärisch wieder in die andere Richtung legen kann - und was dafür zu tun ist", meint Gustav Gressel.
Eines der Probleme dabei bleibt unter anderem Ungarn, dass sich unter dem autokratischen Regierungschef Viktor Orban als einziger EU-Staat sogar dagegen ausgesprochen hat, dass die Ukraine über sie betreffende Entscheidungen mitbestimmen kann.
Doch auch die ukrainische Führung trägt einen Teil zur Misere bei. "Mit internationalen Gästen wird nur über kurzfristige Erfolge gesprochen, die es zweifelsohne gibt", so der Militärexperte. "Aber die langfristigen Trends werden durch kurzfristige Erfolge nicht gebrochen."