Weil Ersthelfer fehlen: „Könnten mindestens 10.000 Menschenleben zusätzlich retten“

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Die Erste-Hilfe könnte mit einfachen und günstigen Lösungen verbessert werden, sagt DRK-Bundesarzt Bernd Böttiger. Er spricht von „unterlassener Hilfeleistung der Politik“.

Berlin – Jährlich sterben tausende Menschen in Deutschland unnötigerweise; Zum weltweiten Erste-Hilfe-Tag macht der DRK-Bundesarzt und Universitätsprofessor Bernd Böttiger mit klaren Worten auf eine wenig beachtete Notlage in Deutschland aufmerksam: eine unzureichende Erste-Hilfe-Infrastruktur. Der Arzt nimmt die Politik in die Verantwortung, gibt aber auch Tipps, worauf jede und jeder einzelne künftig achten sollte.

Letzter Erste-Hilfe-Kurs über zehn Jahre her

Anlässlich des Erste-Hilfe-Tags hat das Deutsche Rote Kreuz (DRK) eine repräsentative Umfrage mit ernüchternden Erkenntnissen durchführen lassen: Bei 55 Prozent der Bevölkerung ist der letzte Erste-Hilfe-Kurs mehr als zehn Jahre her. Bei 41 Prozent sogar mehr als 15 Jahre. Nicht einmal jede und jeder Fünfte hat in den vergangenen zwei Jahren einen Kurs besucht. Entsprechend wenige Menschen trauen sich noch eine umfassende Erste-Hilfe zu.

Viele Deutsche trauen sich nicht zu, im Notfall eine Herzdruckmassage durchzuführen. Das DRK fordert deshalb eine Reihe von Veränderungen in der Erste-Hilfe-Infrastruktur.
Viele Deutsche trauen sich nicht zu, im Notfall eine Herzdruckmassage durchzuführen. Das DRK fordert deshalb eine Reihe von Veränderungen in der Erste-Hilfe-Infrastruktur. © IMAGO/Michael Bihlmayer

Für DRK-Bundesarzt Böttiger ein Alarmsignal: „Das Wissen nimmt mit zunehmendem Abstand zum letzten Kurs ab. Deshalb ist es umso wichtiger, Erste-Hilfe-Kurse und insbesondere Wiederbelebungstraining nicht erst mit dem Führerschein, sondern schon im Kindergarten und der Schule einzuführen“, sagt Böttiger im Gespräch mit IPPEN.MEDIA. Der langjährige Direktor der Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin der Uniklinik Köln ist für obligatorische Programme: „Zwei Stunden Wiederbelebungsmaßnahmen-Training pro Jahr, verpflichtend ab der siebten Klasse, wäre ein sinnvoller Schritt. Nach der Schule sollte dann alle zwei Jahre ein Auffrischungskurs gemacht werden.”

DRK: Schon Kinder sollen Erste-Hilfe lernen

Die Kurse von Kindesalter haben dem Arzt zufolge gleich mehrere Vorteile. „Das frühe Kennenlernen dieser Maßnahmen wirkt wie ein Door-Opener. Die Kinder verlieren schnell Hemmungen und ihr Interesse an Erster-Hilfe wird geweckt“, so Böttiger. „Außerdem sind Kinder in diesem Fall positive Multiplikatoren. Die meisten Kreislaufstillstände passieren zu Hause. Die Kinder können dann direkt vor Ort helfen beziehungsweise ihr Wissen weitergeben und dadurch weitere Familienmitglieder anlernen.“

Dass Erste-Hilfe-Kurse nicht nur ein Thema für Rettungskräfte sein sollten, zeigt der Blick auf die Zahlen. Durchschnittlich benötigt ein Rettungsdienst in Deutschland neun Minuten, um zum Unfallort zu kommen. Die Minuten bis zum Eintreffen sind aber oft entscheidend, weiß Böttiger. „Bei einem Kreislaufstillstand reicht diese Zeit nicht, ohne Sauerstoff stirbt das Hirn vorher. Pro Tag sterben daher rund 200 Menschen in Deutschland daran.“

Kreislaufstillstand dritthäufigste Todesursache

Durch mehr Erste-Hilfe-Kenntnisse ließe sich die dritthäufigste Todesursache in Deutschland drastisch reduzieren: „Wir könnten jedes Jahr mindestens 10.000 Menschenleben zusätzlich retten, wenn mehr Menschen wüssten, wie sie in solchen Notsituationen eine Herzdruckmassage durchführen müssen. Wir sehen in Ländern wie Dänemark, dass es funktioniert.“ Dort gibt es eine breitere Erste-Hilfe-Struktur mit Kursen ab Kindesalter. Die Sterberate durch Kreislaufstillstände ist signifikant niedriger.

Für Böttiger, der selbst Vorstandsvorsitzender des Deutschen Rates für Wiederbelebung (GRC) ist, kann der Wert der Hilfe nicht hoch genug geschätzt werden: „Wer bei einem Kreislaufstillstand von Anfang an das Richtige tut, kann den Hirntod eines Menschen meist verhindern“, so der Arzt. „Und das tolle ist: Die Person kann danach in vielen Fällen genauso gut weiterleben wie zuvor. Das beste Beispiel ist der Fußballspieler Christian Eriksen, als sofort engagierte Helfer eine Herzdruckmassage durchgeführt und sein Hirn damit mit Sauerstoff versorgt haben.“ Der dänische Fußballspieler ist 2021 während eines EM-Spiels wegen eines Herzstillstands umgekippt – spielt heute aber wieder als Profi.

DRK-Arzt: „Unterlassene Hilfeleistung der Politik“

Neben klassischen Kursen gibt es weitere Ansätze, wie die eine durch Experten assistierte Telefonwiederbelebung und Ersthelfersysteme als Apps. „Besonders bei der Telefonwiederbelebung ist es absolut nicht nachvollziehbar, dass sie bei uns immer noch nicht bundesweit gesetzlich vorgeschrieben ist“, kritisiert Böttiger. Dabei können Ersthelfer bei Unsicherheiten den Notdienst anrufen und werden von diesem detailliert durch die notwendigen Schritte zur Wiederbelebung geführt. Vielen Notdiensten fehlt für diese Leistung jedoch das Geld.

Für Böttiger ein nicht hinnehmbarer Zustand, er fordert von der Politik mehr Mittel für gemeinnützige Träger: „Jeden Tag sterben unnötig Menschen, die gerettet werden könnten. Das könnten wir durch einfachste Maßnahmen, die praktisch nichts kosten, verhindern. Das grenzt an unterlassene Hilfeleistung der Politik.”

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