Bürgergeld für „Totalverweigerer“ komplett streichen: Das sagt das Bundesverfassungsgericht dazu
In der CDU wird – mal wieder – die Forderung nach einer Streichung der Grundsicherung für manche Bürgergeld-Empfänger laut. Ein Gerichtsurteil des Verfassungsgerichts dazu lässt aufhorchen.
Berlin – Es ist Sommerpause im parlamentarischen Berlin und die Parteien bereiten sich zunehmend auf die anstehenden Wahlen vor: Die Landtagswahlen in den ostdeutschen Bundesländern Sachsen, Thüringen und Brandenburg im September, genauso wie die Bundestagswahl im darauffolgenden Jahr lassen die Politiker und Politikerinnen einen anderen Ton einschlagen. Wenig verwunderlich daher, dass die CDU jetzt wieder ihre Forderungen zur Zukunft des Bürgergeldes kundtut.

CDU will 100.000 Menschen das Bürgergeld komplett streichen
CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann hatte am Wochenende den Vorstoß präsentiert, mehr als 100.000 Menschen das Bürgergeld komplett zu streichen. „Die Statistik legt nahe, dass eine sechsstellige Zahl von Personen grundsätzlich nicht bereit ist, eine Arbeit anzunehmen“, sagte Linnemann den Zeitungen der Funke-Mediengruppe.
Dabei bezog sich Linnemann wohl auch auf Ukrainer und Ukrainerinnen, die in Deutschland Bürgergeld bekommen. „Die Ukrainer verteidigen auch unsere Freiheit. Aber wenn es eine Leistung gibt, ist sie mit einer Gegenleistung verbunden. Dazu zählt, eine Arbeit aufzunehmen.“ Hier fehlten entsprechende Anreize. Ausnahmen sieht er bei Alleinerziehenden oder Menschen, die Angehörige pflegen. Auch die stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion, Andrea Lindholz, machte sich für einen radikalen Kurswechsel stark.
Es stellt sich allerdings die Frage, ob Komplettkürzungen überhaupt verfassungskonform wären. Zu den Sanktionen für Hartz-IV-Empfänger hatte es 2019 bereits ein Urteil des Verfassungsgerichts gegeben, das an dieser Stelle wegweisend wäre. Damals betonten die Richter und Richterinnen die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, auf die jede Person Anspruch habe. Besonders bedeutend folgender Satz in der Urteilsbegründung: „Die den Anspruch fundierende Menschenwürde steht allen zu und geht selbst durch vermeintlich ‚unwürdiges‘ Verhalten nicht verloren.“
Bürgergeld komplett streichen: Gericht stellt strenge Bedingungen für Sanktionen
Die Verfassungsrichter und -richterinnen urteilten aber auch, dass der Staat das Recht hat, im Gegenzug für Grundsicherung auch eine Mitwirkungspflicht zu fordern. Wer sich nicht aktiv darum bemüht, seine Bedürftigkeit zu beenden, kann sanktioniert werden. Allerdings müssen diese Sanktionen dem Gebot der Verhältnismäßigkeit folgen. Denn Sanktionen stellen für Betroffene eine „außerordentliche Belastung“ dar, die durch den Staat herbeigeführt werde. Bei der Sanktionierung müssen folgende Bedingungen also erfüllt sein:
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- Es muss verlässliche Prognosen geben, die die Wirkung der Sanktionen belegen; je länger sie andauern, desto mehr ist der Staat in der Pflicht zu belegen, dass die auferlegten Sanktionen wirklich das erwünschte Verhalten erzeugen
- Es muss den Betroffenen möglich sein, durch eigenes Verhalten Sanktionen abzuwenden
- Es muss den Betroffenen möglich sein, durch eigenes Verhalten das Ende der Sanktionen herbeizuführen
- Die Leistungen müssen nach Ende der Sanktionen wieder in vollem Maße hergestellt werden
Leistungskürzungen im Bürgergeld: 60 Prozent ist zu hoch
In dem Grundsatzurteil von 2019 ging es auch um die Höhe der Leistungskürzungen. Damals entschied das Gericht, dass eine Kürzung der Grundsicherung von 60 Prozent nicht verhältnismäßig war. Eine Kürzung in Höhe von 30 Prozent wurde in bestimmten Fällen für verhältnismäßig erklärt. Begründet wurde das damit, dass dem Betroffenen damit wichtige Elemente zur Aufnahme einer Arbeit entzogen wurden, darunter Kleidung, Verkehr und Bildung. Das Gericht sah zudem die Gefahr, bei solch einer deutlichen Kürzung könnten auch Dritte belastet werden.
Das Bundesverfassungsgericht zweifelte in dem Urteil an, dass die Leistungsminderungen überhaupt den erwünschten Effekt hätten. Dazu sei die Studienlage noch zu dünn, weshalb es die Pflicht des Staates sei, die Wirkung zu beweisen.
Dennoch ließen die Richter und Richterinnen eine Tür offen: Wenn eine zumutbare Arbeit ohne wichtigen Grund „willentlich verweigert wird, obwohl im Verfahren die Möglichkeit bestand, dazu auch etwaige Besonderheiten der persönlichen Situation vorzubringen, die einer Arbeitsaufnahme bei objektiver Betrachtung entgegenstehen könnten“, kann auch eine komplette Streichung von Hartz IV (heute Bürgergeld) rechtfertigbar sein. Der Staat müsse aber weiterhin sicherstellen, dass die betroffene Person theoretisch zumindest eine Chance hätte, einer Arbeit nachzugehen.
Komplette Streichung von Bürgergeld theoretisch möglich
Das, was Linnemann hier fordert, ist also theoretisch möglich, doch es müssen dafür ganz bestimmte Bedingungen erfüllt sein. Der Staat darf eine Person nicht einfach in der Bedürftigkeit lassen, das ist mit der Menschenwürde nicht vereinbar. Betroffenen muss immer die Möglichkeit gegeben werden, sich wieder einzubringen. Wer aber nachweisbar nicht bedürftig ist und auch ohne Bürgergeld auskäme, dem kann der Staat das Geld auch entziehen.
Die CDU-Abgeordnete Gitta Connemann hat gegenüber der Welt deshalb auch nachgelegt und betont: „Wer nicht arbeitet, obwohl er es kann – und das ohne wichtigen Grund –, muss sanktioniert werden. Leistungskürzungen sind legitim und wichtig. Und sind auch vollständig möglich. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Möglichkeit offen gehalten“.
Aus Sicht der Abgeordneten Julia Klöckner (CDU) sei es auch möglich, „in begründeten Fällen so weit zu gehen, dass es Essensgutscheine statt Geld gibt oder dass Menschen, die in teuren Innenstadtlagen leben, in günstigere Regionen umziehen müssen.“ Ob das möglich wäre, ist Interpretationssache.
„Totalverweigerer“ im Bürgergeld gibt es kaum – Sozialflügel der CDU kritisiert Linnemann
Was allerdings relativ klar ist: Solche drastischen Kürzungen würden sowieso nur für eine sehr begrenzte Zahl an Personen infrage kommen. Entsprechend kam aus dem Sozialflügel der CDU Gegenwind für Linnemann. Seine Forderung gehe an der Wirklichkeit vorbei, kritisierte der Vize-Vorsitzende der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA), Christian Bäumler. Menschen in Deutschland dem Hunger auszusetzen, sei mit dem christlichen Menschenbild nicht vereinbar.
Wer ein konkretes Arbeitsangebot nicht antrete, habe auch keinen Anspruch auf Solidarität, sagte der CDA-Vorsitzende Karl-Josef Laumann der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Zugleich betonte er, dass im vergangenen Jahr bundesweit 21.000 Menschen wegen Arbeitsverweigerung von einer Leistungskürzung betroffen gewesen seien. „Das sind nicht viele.“ Insgesamt bezogen 2023 rund 5,5 Millionen Menschen Bürgergeld, allerdings waren darunter auch sogenannte Aufstocker, die Bürgergeld zum eigenen Einkommen zusätzlich bekommen.
Bürgergeld und Schwarzarbeit muss nach Ansicht der SPD bestraft werden
Derweil hat sich die SPD-Ministerpräsidentin des Saarlandes, Anke Rehlinger, für eine bessere „Treffsicherheit“ des Bürgergelds ausgesprochen. „Die Themen Migration und Sozialstaat wachsen zusehends zu einer vergifteten Debatte zusammen, unter anderem weil der Anteil der Bürgergeldempfänger mit Migrationshintergrund steigt“, sagte die SPD-Politikerin dem Berliner Tagesspiegel. Missbrauch müsse bestraft werden, Personen mit anerkanntem Asylgrund müssten schnell in Arbeit kommen.
Klar sei aber auch: „Arbeit wird sich immer mehr lohnen gegenüber dem Bezug von Sozialleistungen – auch und gerade durch das Bürgergeld“, sagte Rehlinger der Zeitung weiter. „Bürgergeld und Schwarzarbeit scheinen aber unter Umständen lohnend – und die Menschen beobachten das in ihrem Umfeld.“ Der Staat müsse effektiver gegen Schwarzarbeit vorgehen, auch mit harten Sanktionen bei Sozialleistungen, „denn das ist doppelter Betrug an der Gesellschaft“. (mit Material von dpa)