Neue Corona-Protokolle: RKI kritisierte Spahns Impf-Aussagen - „sagt Minister vermutlich bewusst“

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Nun sind alle Corona-Protokolle des Robert Koch-Instituts veröffentlicht. Sie geben Einblick in einige Pandemieentscheidungen – und belasten Ex-Minister Jens Spahn.

Am Ende sind es mehr als 4000 Seiten: Die Protokolle des Corona-Krisenstabs des Robert Koch-Instituts (RKI) liegen nun vollständig entschwärzt vor. Der Blick in die Dokumente zeigt, dass das RKI intern teils anders über die Pandemie sprach als Regierungspolitiker. Besonders brisant ist das bei den Aussagen zur Pandemie der Ungeimpften, die das Institut offenbar für wissenschaftlich nicht korrekt hielt.

Pandemie der Ungeimpften: „Aus fachlicher Sicht nicht korrekt“

Im Protokoll vom 5. November 2021 heißt es zum Begriff der Pandemie der Ungeimpften: „Aus fachlicher Sicht nicht korrekt, Gesamtbevölkerung trägt bei.“ Dann fragt das RKI: „Soll das in Kommunikation aufgegriffen werden?“, ehe ein bemerkenswerter Satz fällt: „Sagt Minister bei jeder Pressekonferenz, vermutlich bewusst, kann eher nicht korrigiert werden.“

Gesundheitsminister war damals noch Jens Spahn. Der CDU-Politiker verwendete also öffentlich einen Begriff, den das wissenschaftlich arbeitende RKI selbst nicht teilte.

Tatsächlich sprach Spahn immer wieder von der Pandemie der Ungeimpften. Bereits im September 2021 – aber auch zwei Tage vor dem entsprechenden RKI-Bericht. Die „vierte Welle“ rolle „mit voller Wucht“ auf Deutschland zu, meinte Spahn am 3. November. „Wir erleben gerade vor allem eine Pandemie der Ungeimpften und die ist massiv.“

RKI sah es anders: Spahn reagiert auf neue Protokolle zur Corona-Pandemie

Ein Sprecher Spahns erklärt dazu auf Anfrage von IPPEN.MEDIA: „Herr Spahn sieht den konstruierten Widerspruch nicht.“ Der Minister habe „damals auf den Umstand verwiesen, dass 90 bis 95 Prozent der Covid-19-Patienten auf Intensivstationen nicht geimpft waren.“ Schwere und schwerste Verläufe hätten sich zudem „deutlich überproportional“ bei nicht-geimpften Patienten gezeigt, „wie es ja auch die RKI-Daten zeigten“.

Weiter heißt es: „Herr Spahn hat dabei stets betont, dass Impfen eine persönliche und freie Entscheidung ist, aber auch Konsequenzen für andere hat, unter anderem durch eine Überlastung des Gesundheitssystems. Die fachliche Einschätzung aus dem RKI, dass Gesamtbevölkerung auch beiträgt, widerspricht dem nicht.“

Drei Jahre Coronavirus
Ex-Minister Jens Spahn, der Virologe Christian Drosten und Ex-RKI-Präsident Lothar (v.r.) Wieler bei einer Bundespressekonferenz 2020. © Bernd von Jutrczenka/dpa

Auch andere Politiker griffen das Narrativ auf, so etwa Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU). Karl Lauterbach – damals noch Bundestagsabgeordneter und nicht Minister – sagte Anfang November 2021 etwas präziser: „Die Ungeimpften sind im Moment die Treiber der Pandemie.“ Das RKI hielt zu der auch in den Medien vorkommenden Wendung von der „Pandemie der Ungeimpften“ fest: „Dient als Appell an alle, die nicht geimpft sind, sich impfen zu lassen.“

Wissenschaftliche Zweifel an diesen Aussagen wurden in dieser Zeit von Experten kritisch öffentlich diskutiert. So sagte der Virologe Christian Drosten der Zeit: „Es gibt im Moment ein Narrativ, das ich für vollkommen falsch halte: die Pandemie der Ungeimpften.“

Corona-Impfschutz: „Man sollte sehr vorsichtig mit der Aussage sein, ... “

Die Corona-Zahlen waren im Herbst und Winter 2021 hoch, trotz stetig wachsender Impfquote. Das RKI hielt dazu am 5. November 2021 fest: Es „besteht in den ersten 2 Wochen – 2 Monaten nach Impfung sehr guter Schutz vor jeglicher (auch asymptomatischer) Infektion.“ Dann sinke die Immunität allerdings wieder. „Dementsprechend können sich Geimpfte >2 Monate nach Impfung auch wieder leichter infizieren.“ Weiter heißt es: „Kommunikation kann nicht geändert werden. Würde große Verwirrung hervorrufen.“

Gleichzeitig betonen die Experten immer wieder, dass der Nutzen der Impfung überwiege. Klar ist auch, dass Ungeimpfte zu diesem Zeitpunkt einen geringeren Schutz als Geimpfte hatten. Laut RKI war die Gefährdung der Gesundheit für Einmal- und Nicht-Geimpfte damals sehr hoch, für vollständige Geimpfte hingegen moderat.

Einen vollständigen Schutz gebe es aber eben nicht, hieß es in den RKI-Protokollen: „Man sollte dementsprechend sehr vorsichtig mit der Aussage sein, dass Impfungen vor jeglicher (auch asymptomatischer) Infektion schützen.“

RKI intern: „Unabhängigkeit von der Politik ist eingeschränkt“

Wurde die Behörde also nicht gehört? IPPEN.MEDIA berichtete bereits über Dokumente, die den Schluss nahe legen, dass maßgebliche Entscheidungen entgegen der Auffassungen im RKI getroffen wurden. Durch die neuen Dokumente drängt sich abermals der Eindruck auf, dass die Behörde während der Pandemie nicht unabhängig arbeiten konnte. Das kritisiert das RKI sogar selbst in dem Protokoll vom 10. September 2021. In der Sitzung ging es um die aktuellen Coronamaßnahmen – und eine mutmaßliche Einmischung von Minister Spahn.

So heißt es in dem Protokoll: „Am Donnerstag erfolgte vor Veröffentlichung der Aktualisierung des Kontaktnachverfolgungsmanagement-Papiers eine ministerielle Weisung zur Ergänzung.“ Diese ministerielle Weisung beinhaltete demnach unter anderem die Berücksichtigung von Corona-Tests für die Freitestung nach fünf Tagen. Das RKI sprach sich für eine andere Testung aus und hielt im Protokoll fest: „Der neue Passus sorgte für Irritation auf Seiten der Länder. Eine derartige Einflussnahme seitens des BMG in RKI-Dokumente ist ungewöhnlich.“

Die „Weisungsbesugnis des Ministers bei technischen Dokumenten“ werde sogar „rechtlich geprüft“ heißt es weiter. „Aktuelle Einschätzung der RKI-Leitung ist, dass die Empfehlungen durch das RKI in der Rolle einer Bundesbehörde ausgesprochen werden, und einer ministeriellen Weisung zur Ergänzung dieser Empfehlung nachgekommen werden muss, da das BMG die Fachaufsicht über das RKI hat und sich als Institut nicht auf Freiheit der Wissenschaft berufen kann. Die wissenschaftliche Unabhängigkeit des RKI von der Politik ist insofern eingeschränkt.“

Jens Spahn und Karl Lauterbach
Minister während der Pandemie: Jens Spahn und Karl Lauterbach. Das RKI ist dem Gesundheitsministerium unterstellt. Es ist weisungsgebunden und kann Aufträge des Gesundheitsministers nicht ablehnen. Die Behörde betonte aber immer wieder, ihre Entscheidungen unabhängig auf wissenschaftlicher Grundlage zu treffen. © IMAGO / Political-Moments

Corona-Protokolle: Offenbar Whistleblower beim Robert Koch-Institut

Bereits im Frühjahr war ein erster Teil der Corona-Protokolle veröffentlicht worden. Das Magazin Multipolar hatte die Dokumente preisgegeben, allerdings zunächst geschwärzt, da das RKI aufgrund von Persönlichkeitsrechten von Mitarbeitern gegen eine vollständige Veröffentlichung wehrte. Dann mussten die Dokumente entschwärzt vorgelegt werden, betrafen aber nur den Zeitraum bis April 2021. Die freie Journalistin Aya Velazquez hat nun alle restlichen Dokumente veröffentlicht. „Ein/e Whistleblower/in, ein/e ehemalige Mitarbeiter/in des Robert-Koch-Instituts“ habe ihr die Dokumente zugespielt.

Das RKI kann die Echtheit der Dokumente auf Anfrage von IPPEN.MEDIA nicht bestätigen. „Das RKI hat die Datensätze weder geprüft noch verifiziert“, erklärte eine Sprecherin. Es gibt allerdings keine Anhaltspunkte dafür, dass die nun kursierenden Protokolle gefälscht sind. Das RKI betont derweil, es wolle die fehlenden Dokumente „nach entsprechender Prüfung und Drittbeteiligung so schnell wie möglich zu veröffentlichen“.

Anders als Spahn äußerte sich Lauterbach. Der amtierende Minister schrieb auf X (ehemals Twitter): Das RKI hatte ohnedies vor, mit meiner Zustimmung, die RKI-Files des Corona-Krisenstabs zu veröffentlichen. Jetzt geschieht es, ohne dass die Rechte Dritter, auch Mitarbeiter, vorher geschützt worden wären. Zu verbergen gibt es trotzdem nichts.“ (as)

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