„Offensives Dreieck“: Russland-Taktik stürzt Nato und Ukraine in Dilemma

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Eine der europäischen Zukunftswaffen: Der deutsche Taurus-Marschflugkörper könnte in einem möglichen Konflikt mit Russland eine kriegsentscheidende Waffe sein, glauben britische Militär-Analysten. © IMAGO / ABACA

„So günstig wie möglich“, solle Europa aufrüsten. Aber zügig. Analysten betrachten Russlands Offensiven als konzeptlos, aber in der Masse erfolgreich.

Kiew – „Putins Besessenheit von der Ukraine wurde in den letzten zwei Jahrzehnten immer deutlicher, als sein Feldzug zur Unterwerfung des Landes von politischer Einmischung zu militärischer Intervention eskalierte“, schreibt Mykola Bielieskov. Zur Analyse des Autoren des Thinktanks Atlantic Council passt eine Warnung, die aktuell die britischen Forscher des Royal United Services Institute (RUSI) aussprechen: Demnach demonstriere Wladimir Putins Invasionsarmee, mit welcher Taktik sie auch eine Offensive gegen die Nato führen könnte. Eine der Empfehlungen: Die Nato-Länder sollten ihre jeweilige Luftwaffe stärken – was die Situation für die Allianz verkompliziert.

Vom „offensiven Dreieck“ sprechen die RUSI-Autoren Jack Watling und Nick Reynolds – sie bezeichnen damit das Miteinander aus Infanterie, Drohnen und Gleitbomben, um die ukrainische Armee niederzuhalten. Ihnen zufolge habe sich alles aus dem zweiten Kriegsjahr heraus abgezeichnet: Weiterhin würden die russischen Streitkräfte an der Kontaktlinie ihre Gegner mit Infanterie und mechanisierten Kräften festzunageln versuchen – das setze die Taktik des zweiten und dritten Kriegsjahres fort, so die Autoren.

Ukraine-Krieg: Das Auftreten der russischen Luftwaffe als bedeutender Faktor

Darüberhinaus versuchen die Russen ihre Gegner zu zermürben mit FPV-Drohnen (First-Person-View), Lancet-Drohnen sowie massiver Artillerie aus hochexplosiven Präzisionsgeschossen und Streumunition – was jetzt nichts Neues sei, wie Watling und Reynolds einräumen. Nichtsdestotrotz mache sich die Dauer dieser Taktik mittlerweile verschärfend bemerkbar; vor allem, weil die Russen auch mit an Glasfaser gebundenen Drohnen operierten, damit Gegenmaßnahmen erschwerten und überhaupt die Dichte von Nachrichtendienst, Überwachung und Aufklärung zunehme. Das erschwere den Ukrainern sowohl den Nachschub, die Evakuierung von Kräften aus den Kampfräumen sowie das Halten wichtiger Positionen oder die Verteidigung entscheidender und hochwertiger Stellungen.

„Russland kann aufgrund dieser Entwicklungen noch siegen – einfach aufgrund ihrer größeren Masse an Kräften, aber der Ukraine-Krieg macht offensichtlich, dass den Russen ein effektives System für infanteristische Offensiven fehle – trotz ihrer vielen experimentellen Ansätze“

Drittens hätten die Gleitbomben-Angriffe aus dem vergangenen Jahr zugenommen, was die Ukraine in ein Dilemma stürze. Die ukrainische Armee hätte die Wahl, entweder ihre statischen Positionen zu halten, um sich besser gegen Artillerie- und Drohnen-Angriffe zu schützen, dafür aber ein lohnendes Ziel zu werden für Gleitbomben; oder sie könnte ihre Verteidigung flexibilisieren, würde also den Gleitbomben ihre Ziele nehmen, sich dagegen aber wieder den russischen Drohnen und der feindlichen Artillerie aussetzen.

Das wirklich Neue an dieser Gleichung sei das Auftreten der russischen Luftwaffe als bedeutender Faktor in diesem Krieg, urteilt Michael Peck. „Trotz Moskaus anfänglicher Hoffnungen, dass die Luftwaffe im Bodenkampf entscheidend sein würde, hat sich in der Realität gezeigt, dass die russische Luftwaffe auf dem Schlachtfeld durch ukrainische Flugabwehrraketen weitgehend neutralisiert wurde. Die russischen Flugzeuge blieben in der Regel weit hinter der Frontlinie, außerhalb der Reichweite der ukrainischen Luftabwehr“, schreibt der Autor des Business Insider (BI) zum Ergebnis der Analyse.

Offensiven: Gleitbomben-Angriffe haben sich zu einer für Russlands Ziele schlagkräftigen Waffe entwickelt

Die Gleitbomben-Angriffe gehen zurück auf das zweite Kriegsjahr und hätten sich aufgrund ihrer Reichweite und ihrer günstigen Reproduzierbarkeit zu einer für Russlands Ziele schlagkräftigen Waffe entwickelt, so das RUSI. Diese umgerüsteten Freifallbomben, die sich durch Tuning-Kits plötzlich horizontal bewegen ließen, ermöglichten der russischen Luftwaffe Angriffe aus einer sicheren Entfernung von bis zu 90 Kilometern hinter der Frontlinie heraus.

„Es ist schwer, sich ein Ziel vorzustellen, das von einer Fliegerbombe dieser Größe nicht zerstört werden würde“, soll ein russischer Pilot beim Start der Bombe gesagt haben. „Sie sind sehr furchterregend und tödlich. „Selbst aus einem Kilometer Entfernung reißt die Explosion die Türen von Gebäuden aus den Angeln“, sagte gegenüber der Financial Times (FT) der ukrainische Soldat Bohdan. Anfangs hatten die Invasoren um sich geworfen mit Bomben mit einem Gewicht zwischen 500 und 1.500 Kilogramm Sprengstoff – inzwischen tragen die Russen die Kraft der Verwüstung von drei Tonnen Sprengstoff in ihr Nachbarland.

John Hoehn aber sieht die Macht der Gleitbomben schwinden. Drei Möglichkeiten blieben der Ukraine als Gegenmaßnahme, argumentiert der Analyst des US-Thinktanks RAND: Um die Ukraine in die Lage zu versetzen, die Bedrohung durch Gleitbomben abzuwehren, brauche sie Langstreckenraketen, F-16-Kampfjets und schwedische AEW&C-Flugzeuge (Airborne Early Warning and Control) zur Langstreckenaufklärung sowie vor allem moderne elektronische Kampfmittel, die den Gleitbomben die Orientierung nähmen.

Selenskyjs Trauma: Russland kann noch siegen – einfach aufgrund seiner größeren Masse an Kräften

Dessen ungeachtet, haben sowohl die Russen als auch die Ukrainer Schwierigkeiten, ihren Bombenangriffen Infanteriebewegungen folgen zu lassen, um Territorium zu sichern. Obwohl die ukrainischen Kräfte erfolgreich die Offensiven der Russen verzögern und den russischen Blutzoll erhöhen, müssen sie dafür selbst Kräfte aufbieten, die ihnen faktisch fehlen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj braucht einfach mehr Personal. Trotz dessen sei dadurch Russland Fähigkeit eingeschränkt, seine Offensiven zügiger zu führen oder Brüche in den Verteidigungslinien auszunutzen – die Bemühungen enden darin die Ukraine zu zermürben anstatt sie zu besiegen – laut den RUSI-Analysten fehlten Putins Truppen die erfolgreichen Mittel, um die Verteidigungslinien der Ukraine zu durchbrechen.

„Russland kann aufgrund dieser Entwicklungen noch siegen – einfach aufgrund seiner größeren Masse an Kräften, aber der Ukraine-Krieg macht offensichtlich, dass den Russen ein effektives System für infanteristische Offensiven fehle – trotz ihrer vielen experimentellen Ansätze“, schreiben Watling und Reynolds. Nichtsdestotrotz drohe der Ukraine, dass sich ihre Situation verschlechtere. Allein deshalb schon empfehlen Watling und Reynolds der Nato, sich auf ihre konventionellen Abschreckungsmöglichkeiten stärker zu fokussieren.

Taurus-Offensive: Investitionen in Luft-Luft-Raketen, Abstandswaffen und Marschflugkörper gefordert

Trotz allen Schreckens durch russische Gleitbomben heben die RUSI-Analysten nochmals den unverhältnismäßig geringen Einfluss der russischen Luft- und Raumfahrtstreitkräfte am Ukraine-Krieg hervor, beziehungsweise die allgemein erbärmliche Darstellung der russischen Luftwaffe in einzelnen Angriffs-Szenarien. Das gilt Watling und Reynolds als Ausweis dafür, dass die Luftüberlegenheit der Nato jetzt schon einen Vorteil in einem möglichen künftigen Konflikt darstelle und die westlichen Länder gut beraten seien, diesen Vorteil auszubauen.

Der ehemalige Präsident der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, hatte in einem Bericht zur Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union beispielsweise die Entwicklung und europaweite Verbreitung eines Kampfflugzeuges der aktuellen, also der fünften Generation, wie die F-35, als essentiell für die Zukunftsfähigkeit Europas dargestellt. Die RUSI-Analysten fordern daneben Investitionen in Langstrecken-Luft-Luft-Raketen sowie Abstandswaffen und Marschflugkörper, beispielsweise die deutschen Taurus.

Nato will aufrüsten: Kampagne für einen „Weg zur industriellen Reife“ gestartet

In einer Kampagne für einen „Weg zur industriellen Reife“ fordert die EU ihre Mitgliedstaaten auf, bis 2030 mindestens 40 Prozent ihrer Verteidigungsgüter in Zusammenarbeit zu beschaffen und den europäischen Verteidigungshandel bis 2030 auf mindestens 35 Prozent des EU-Verteidigungsmarktes auszubauen. Bis 2030 sollen die einzelnen Länder mindestens 50 Prozent und bis 2035 dann 60 Prozent des Verteidigungsbeschaffungsbudgets innerhalb der EU belassen. Damit könnte Europa aus der Not eine Tugend machen.

Watling und Reynolds plädieren für Inventionen in Fähigkeiten für ausgedehnte und komplexe Luftschläge über Langstrecken – um den Feind möglichst weit weg vom eigenen Territorium bekämpfen zu können. Dafür müssten die westlichen Länder in Jet-Turbinen investieren, in Raketentriebwerke sowie deren Steuerungen oder Navigationssysteme. Sollten die westlichen Länder jetzt damit beginnen, um die Ukraine damit zu versorgen, würden sie in einem Verteidigungsfall des eigenen Territoriums die industriellen Kapazitäten längst etabliert haben. Damit könnten sie in Langstrecken-Schlägen eine neue russische Invasionsarmee in ihrer Infrastruktur und ihrer Logistik treffen.

Laut Watling und Reynolds sei aber die Priorität der Streitkräfte, dass die Produktion nicht nur zeitnah anlaufe, sondern, wie sie fordern: „so günstig wie möglich“.

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