Politologe watscht Ampel ab: „Republik in Gefahr durch Nichtleistung der Parteien“
Nicht nur durch den Aufstieg der AfD befindet sich die Parteienlandschaft im Wandel. Im Interview mit Merkur.de spricht Politologe Werner Weidenfeld über die Auslöser.
München – Die Ampel-Regierung steht in den aktuellen Umfragen vor einem politischen Scherbenhaufen. In einer Erhebung des Meinungsforschungsinstituts Forsa kommen SPD, Grüne und FDP zusammen auf den gleichen Wert wie die Unionsparteien. Wenn am kommenden Sonntag Bundestagswahl wäre, müssten die Freien Demokraten sogar um den Einzug ins Parlament bangen.
Der große Profiteur ist die AfD. Die Rechtspopulisten lassen sich auch von den jüngsten Skandalen um das Potsdamer Treffen nicht bremsen und können sich bei den bevorstehenden Wahlen im Jahr 2024 gute Chancen ausrechnen.
Doch auch abseits der AfD bringen sich neue Parteien in Position. Die frühere Vorsitzende der Linken, Sahra Wagenknecht, hat mit ihren politischen Mitstreitern eine neue Partei gegründet. Auch der Vorsitzende der Werteunion, Hans-Georg Maaßen, plant offenbar, den Verein zu einer Partei umzubauen. Im Interview mit Merkur.de von IPPEN.MEDIA schätzt der Politikwissenschaftler Werner Weidenfeld die jüngsten Entwicklungen in der deutschen Parteienlandschaft ein. Verantwortlich für die Situation ist für Weidenfeld vor allem das Versagen der etablierten Parteien.
Politologe über neue Parteigründungen in Deutschland – „Was anders ist, ist die Intensität“
Herr Weidenfeld, in die deutsche Parteienlandschaft ist in letzter Zeit viel Bewegung gekommen. Das „Bündnis Sahra Wagenknecht“ will bereits bei der Europawahl im Juni antreten. Auch aus der Werteunion soll eine Partei entstehen. Sind diese Entwicklungen ein neues Phänomen?
Es ist grundsätzlich nicht ein komplett neues Phänomen, aber es ist in dieser Bandbreite und Schnelligkeit schon ungewöhnlich. Es hat ja auch in frühen Jahrzehnten Parteigründungen gegeben. Die NPD wurde 1969, quasi als eine Art Antwort auf die Große Koalition gegründet. Oder denken Sie an die Grünen, die sich Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre am ganz großen Thema Umweltschutz festgemacht und damit ihren Kurs eingeläutet haben.
Dass man immer mal wieder versucht, mit neuen Parteigründungen die politische Lage zu verändern, ist jetzt nicht komplett neu. Was jetzt anders ist, ist diese Intensität, die Schnelligkeit und auch die Pluralität.

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Wieso zeigt sich diese Intensität gerade jetzt?
In gewisser Hinsicht kann man sehen, dass die AfD vorgemacht hat, dass man auch als Neugründung durchaus erfolgreich sein kann. Die Partei sitzt schon seit vielen Jahren im Deutschen Bundestag und verliert auch jetzt nicht. In den aktuellen Umfragen liegt sie bei 22 Prozent – also doppelt so viel wie bei der letzten Bundestagswahl. Wenn Sie die Neigung hätten, eine neue Partei zu gründen, könnten Sie sich diesen Erfolg als Vorbild nehmen.
„Bieten keine Orientierung“: Immer mehr Wähler wollen etablierte Parteien bestrafen
Sie haben die Grünen angesprochen. Sehen Sie aktuell auch ein einzelnes Thema, auf das sich neu gegründete Parteien spezialisieren? Ist Anti-Establishment der neue Umweltschutz?
Es ist nicht nur ein Teilthema. Was jetzt eigentlich der Anlass ist – und den gab es in dieser Dramatik vorher nicht – ist der konzeptionelle Leerlauf der traditionellen Parteien. Der Schlüssel zu der ganzen Problematik liegt nicht in der Attraktivität einer kleinen, neuen Partei, er liegt in der fehlenden Deutungsleistung der etablierten Parteien. Diese bieten keine Orientierung und keine Zukunftsperspektive.
Das Ergebnis können Sie in den Umfragen feststellen. Über 80 Prozent unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger sagen, sie verstehen nicht, was in dieser Gesellschaft politisch vor sich geht. Viele haben auch Angst. Die Konsequenz daraus ist eine Bestrafung der etablierten Parteien. Wie kann ich die Etablierten bestrafen? Indem ich eine neue Partei unterstütze, die gegen die Etablierten ist. Das ist die AfD. Das ist der Erfolg der AfD.
Prof. Werner Weidenfeld
Werner Weidenfeld ist emeritierter Lehrstuhlinhaber für Politische System und Europäische Einigung an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) und Leiter des Centrums für angewandte Politikforschung (CAP). Zwischen 1987 und 1999 arbeitet Weidenfeld darüber hinaus als Koordinator der Bundesregierung für die transatlantische Zusammenarbeit.
Woran machen Sie diese fehlende Deutungsleistung fest?
Als Bürger will ich doch wissen, wie die Gesellschaft gestaltet wird und wie sie in fünf Jahren gestaltet werden soll. Aber das erfahre ich nicht. Diese Art konzeptioneller Ratlosigkeit, die in die Gesellschaft vermittelt wird, ist der eigentliche Schlüssel für die gesamte Problematik.
Die Ursache für dieses Riesendilemma liegt in der Ratlosigkeit der etablierten Parteien. Das betrifft nicht eine Partei, sondern alle etablierten. Wieso haben denn beispielsweise die noch jüngeren Aufbruchsparteien wie die Grünen nicht einen Riesenerfolg? Sie haben drei Regierungsparteien, die auch in den Umfragen absolut im negativen Desaster liegen.
Politologe Weidenfeld watscht Scholz ab – „daher waberndes Nicht-Profil eines Bundeskanzlers“
Droht durch das Aufkommen neuer Parteien eine grundlegende Veränderung des Deutschen Bundestags?
Das würde ich nicht als dramatisch ansehen. Sie haben ja auch nicht ein völlig neues Verständnis vom Bundestag, seitdem es die AfD gibt. Im Alltag reden sie doch mit ihrem Nachbarn nicht um jede Parlamentsdetaillösung, die die AfD hätte bringen können. Sie schauen vor allem auf den Bundeskanzler, auf den Oppositionsführer und vielleicht noch auf den Finanzminister.
Ein weiter Schlüssel ist insofern das personelle Dilemma, das Sie mit dem Künstlernamen Scholz umschreiben können. So ein daher waberndes Nicht-Profil eines Bundeskanzlers hat es ja noch nie gegeben. Schauen Sie sich doch mal die anderen Kanzler an. Einen Willy Brandt, einen Helmut Kohl oder ein Konrad Adenauer. Das waren ganz anders profilierte Typen, die Autorität ausgestrahlt haben. Das geht Scholz leider ab.
AfD im Aufschwung – „Republik ist in Gefahr durch die Nichtleistung der traditionellen Parteien“
Droht das politische System in Deutschland durch die Parteineugründungen instabiler zu werden?
Das aktuelle Dilemma ist, dass diese etablierten Parteien geschwächt sind und sich weiter schwächen. Davon sind die etablierten Parteien, die der Ampel-Koalition angehören, stärker betroffen.
Aber solange sie diese elementare Anforderung nach Zukunftsperspektive, Orientierungswissen und Deutungsleistung nicht erfüllen, bleiben diese etablierten Parteien auf dem Schwächekurs. Das ist das eigentliche Problem und nicht das Aufkommen von neuen Parteien. Die machen die Republik nicht kaputt, sondern die Republik ist in Gefahr durch die Nichtleistung der traditionellen Parteien.
Wie zeigt sich die angesprochene Nichtleistung der traditionellen Parteien in der Praxis?
Die traditionellen Partien bieten lediglich ein situatives Krisenmanagement. Da wird beispielsweise Tag und Nacht hart gerungen, was man mit der Schuldenbremse macht. Anschließend wird ein Ergebnis verkündet. Es folgt Protest, Aufschrei und in ein paar Tagen wird dann alles wieder korrigiert. Wie wollen sie Vertrauen in diese politischen Leistungserbringer haben, auf die sie null Komma null Verlass haben können?
Sie können das auch in der Geschichte der Bundesrepublik sehen. Da sind Politiker und Parteien angetreten, die in dem Moment, als das Thema zur Debatte stand, scharf kritisiert wurden. Doch die haben durchgehalten und anschließend Wahlen gewonnen. Es hat ein einziges Mal eine absolute Mehrheit im Deutschen Bundestag für eine Partei gegeben. Das war die Union unter Konrad Adenauer 1957. Unmittelbar davor war die höchst kontroverse Debatte um die Wiederbewaffnung und die Mehrheit war dagegen. Adenauer hat es durchgezogen und die absolute Mehrheit gewonnen.
Wie könnte ein möglicher Ausweg aus dem aktuellen Dilemma aussehen?
Der Ausweg kann nur im Bieten dieser Deutungsperspektive liegen. Solange sie das nicht bieten, bleibt man in diesem Tal des Dilemmas hocken.