„Zug eigentlich schon abgefahren“: Biden-Rücktritt könnte Demokraten vor große Probleme stellen
Besteht Biden auf die Präsidentschaftskandidatur? Manche hoffen sogar auf seinen Rücktritt vor der US-Wahl 2024. Ein Experte erklärt, warum das keine gute Idee sein könnte.
Washington, D.C. – Der amtierende US-Präsident Joe Biden steht aktuell massiv in der Kritik. Angefangen hat alles mit dem TV-Duell gegen seinen republikanischen Kontrahenten Donald Trump. Der Auftritt des mächtigsten Mannes der Welt wirkte auf viele Beobachter unsicher, weshalb Zweifel an der geistigen Verfassung Bidens laut wurden. In diesem Zuge wurden auch Rücktrittsforderungen an den Präsidenten für die US-Wahl 2024 gestellt. Es stellt sich die Frage, wie die Demokraten mit ihrem wackelnden Präsidentschaftskandidaten umgehen können.
Christian Lammert, Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt politische Systeme Nordamerikas am John-F.-Kennedy-Institut der Freien Universität Berlin, gab im Gespräch mit IPPEN.MEDIA eine Einschätzung zur Situation in den USA ab. Ist es überhaupt möglich, Biden einfach durch einen anderen Kandidaten oder eine Kandidatin zu ersetzen?
Alternative für Biden bei US-Wahl 2024: Experte sieht „Primary-System“ als Hindernis
Zumindest scheint ein Rückzug Bidens der Plan mancher Demokraten vor der US-Wahl 2024 zu sein. Erst kürzlich forderte der erste Senator von Bidens Partei offen dessen Rücktritt. Und sogar prominente Figuren wie George Clooney sprachen sich für einen neuen Kandidaten der Demokraten aus. Biden gerät wegen seiner Ausfälle zunehmend unter Druck. Doch der US-Experte Lammert hat Zweifel, dass es bald einen Nachfolger für Biden geben wird. Denn nach der Einführung des Vorwahlsystems in den 60er-Jahren ist die Entscheidung für einen neuen Kandidaten wesentlich komplizierter geworden.

„Hier ist ganz wichtig zu verstehen, dass damals die Nominierung von Präsidentschaftskandidaten noch ganz anders verlaufen ist als heutzutage“, erklärt Lammert im Gespräch mit IPPEN.MEDIA Denn das Vorwahlsystem, wie es heute für die Ernennung von Kandidatinnen und Kandidaten genutzt wird, sei damals noch nicht in allen Staaten angewendet worden. „Damals hatten die National Convention [Parteitag der Demokraten, A.d.R] und die Parteieliten eine viel größere Rolle in dem Entscheidungsprozess, wer Kandidat wird“, erklärt Lammert.
„Symbolisches Prozedere“ – US-Experte zweifelt an neuem Vize für Biden bei US-Wahl 2024
„Heutzutage ist ein Kandidat, der durch das Primary-System gewählt worden ist, viel gefestigter in seiner Position“, sagt Lammert. Der Parteitag sei lediglich ein „symbolisches Prozedere, um das Ergebnis der Primaries [Vorwahlen, A.d.R] zu bestätigen“. Die Ernennung eines Kandidaten sei früher wesentlich undemokratischer verlaufen als heute.
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Damals habe man auf dem Parteitag einen geeigneten Kandidaten anhand bestimmter Kriterien ausgewählt. „Und das musste dann nur von den Delegierten, die auf die Parteitage geschickt worden sind, abgesegnet werden“, erklärte Lammert.
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„Parteien damals hatten als Parteiorganisation einen viel größeren Einfluss auf die Nominierung von Kandidaten“, so der Experte. Mit dem neuen Vorwahl-System habe die Entscheidung, wer als Kandidat für die jeweiligen Parteien ins Rennen geht, bereits im Januar festgestanden. „Und damit ist eine Entscheidung jetzt mit einem viel höheren Risiko verbunden.“
Biden muss vor US-Wahl 2024 freiwillig zurücktreten: Experte sieht drei Möglichkeiten für neuen Kandidaten
Einen Weg, wie die Demokraten einen anderen Kandidaten zur US-Wahl 2024 einsetzen könnten, ist laut Lammert aber weiterhin möglich: Biden müsste sich zurückziehen. Dabei gäbe es prinzipiell drei Möglichkeiten. Biden könne augenblicklich zurücktreten und das Amt an seine Vizekandidatin Kamala Harris abgeben, die dann vermutlich auch neue Präsidentschaftskandidatin werden würde.
„Das zweite Szenario ist, dass Biden jetzt vor die Kamera tritt und sagt, ich stehe als Kandidat nicht mehr zur Verfügung“, erklärt Lammert. Das könnte jedoch innerhalb der Partei zu einem Machtkampf führen, wobei Harris weiterhin die besten Karten auf eine Kandidatur habe. Die dritte Möglichkeit sei, dass Biden seinen Rücktritt parteiintern verkünde. „Wenn Biden erst auf dem Parteitag sagt, ich trete nicht mehr an, hat man aber nur eine knappe Woche, um diese internen Konflikte auszutragen“, so Lammert. Das berge ein weiteres Risiko für die Partei.
Lammert glaubt, dass die beste Strategie sei, dass Biden seinen Rücktritt vor dem Parteitag bekannt gibt. „Und dann sollte er sich ganz klar für eine Alternative aussprechen.“ Und diese Alternative müsse bereits vorab innerhalb der Demokraten abgesprochen sein. „Und das macht das Ganze so gefährlich, weil nicht nur Kamala Harris als Kandidatin in der Diskussion häufig genannt wird“, erklärt der US-Experte. Neben der amtierenden Vize-Präsidentin stünden auch noch einige Gouverneure aus Swing States zur Debatte, die durch ihr Amt in den umkämpften Staaten einen Vorteil bringen würden. Keine einfache Entscheidung.
„Zug ist eigentlich schon abgefahren“ – Demokraten sollten an Biden für die US-Wahl 2024 festhalten
Lammert spricht sich im Gespräch mit IPPEN.MEDIA grundsätzlich für eine erneute Kandidatur von Joe Biden aus. Vorausgesetzt, sein Zustand lasse eine Ausführung des Präsidentenamtes weiter zu. „Und wenn er das wirklich nicht kann, dann muss die Partei den Schleudersitz betätigen und mit neuen Kandidaten antreten, was mit großen, großen Risiken verbunden ist“, so Lammert. „Deswegen würde ich sagen, der Zug ist eigentlich schon abgefahren.“
Das verpatzte TV-Duell gegen Trump solle man nicht überbewerten. „Auch Obama hatte 2012 eine schreckliche erste Debatte“, gibt Lammert zu bedenken. „Da lag er sogar noch weiter hinter Mitt Romney, als dass Biden jetzt hinter Trump liegt.“ Solange Biden sein Amt so ausführen könne, wie er es die vergangenen Jahre getan habe, dann empfiehlt Lammert, dass sich die Partei hinter ihren Präsidenten stellt.
Biden solle nun aber mit offenen Karten spielen. Er müsse der Öffentlichkeit Rede und Antwort stehen, was seinen Gesundheitszustand angeht. Zudem müsse er glaubhaft vermitteln, dass die TV-Debatte ein Ausrutscher war. „Dann könnte er gute Chancen haben“, sagte Lammert.
Trump könnten seine Prozesse bei der US-Wahl noch schaden – „er ist verurteilt worden“
„Er hat Trump schon mal geschlagen. Und ich sehe eigentlich ansonsten keine großen strukturellen Veränderungen seit 2020, die Trump jetzt einen Vorteil geben würden“, so der Experte. „Ganz im Gegenteil, er ist in 34 Anklagepunkten verurteilt worden. Er steht massiv in der Kritik, auch nach dem letzten Duell.“
Trump habe in der Debatte „keine einzige Frage richtig beantwortet“. Zudem habe er permanent gelogen und bereits Pläne für seine zweite Amtszeit vorgestellt, welche „die Demokratie infrage stellen können“. Lammert sehe keinen Grund dafür, „dass sich die politische Stimmung massiv verändert haben könnte“. (nhi)