„Assad-Sturz für Israel Chance und Gefahr“ - Nahost-Experte Gil Yaron zum Machtwechsel in Syrien
Machtwechsel im von Diktatur und Bürgerkrieg geplagten Syrien: Eine islamistische Rebellengruppe hat Präsident Baschar al-Assad, einen brutalen Machthaber im Nahen Osten, vertrieben. Nun gewährt ihm Moskau Zuflucht – aus „humanitären Gründen“, wie es heißt.
Fulda/Tel Aviv - Fast ein Vierteljahrhundert hat Baschar al-Assad in Syrien geherrscht, in mehr als einem Jahrzehnt Bürgerkrieg hielt er sich eisern an der Macht. Doch die überraschende Offensive, die islamistische Kämpfer der Miliz Hajat Tahrir al-Scham (HTS) und verbündete Verbände am 27. November begannen, bereitete seiner Herrschaft nun binnen weniger Tage ein Ende.
Nahost-Experte Gil Yaron über Folgen des Assad-Sturzes in Syrien
Die islamistischen Kämpfer eroberten am Wochenende Damaskus – Assad musste fliehen. Was das für Syrien und die gesamte Region bedeutet, erklärt Nahost-Experte Gil Yaron (51) im Interview mit der Fuldaer Zeitung.
Als „Ende einer dunklen Ära“ der Unterdrückung beschreiben die Rebellen den 8. Dezember. Für Sie ist es ein Tag des Jubels. Aber wie stehen die Chancen für ein freies Syrien?
Rein theoretisch gibt es eine Chance für ein freies Syrien. Das Problem ist aber, dass sich die syrische Opposition heute genauso uneinig ist wie vor zehn Jahren. Man konnte sich auf einen gemeinsamen Feind einigen, aber das gemeinsame Ziel fehlt noch.
Freude in Hessen
Mehrere hundert Menschen sind auch in Hessen aus Freude über den Sturz des syrischen Machthabers Baschar al-Assad auf die Straße gegangen. In Kassel sprach die Polizei von rund 500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Versammlung, in Darmstadt, Marburg und Wetzlar waren es jeweils rund 350 Personen, und in Fulda hätten sich rund 50 Menschen an einer Versammlung beteiligt. Der Verlauf sei jeweils friedlich und ruhig gewesen, besondere Vorkommnisse habe es nicht gegeben. (dpa)
Wer ist die syrische Opposition, beziehungsweise wer sind die Rebellen, die Assad stürzen konnten?
Die Opposition besteht aus Dutzenden Gruppierungen. Die bekannteste ist die Islamisten-Allianz Haiat Tahrir al-Scham (HTS), ein Ableger von Al Kaida, die sich selbstständig gemacht hat und in den vergangenen Jahren wiederholt ihren Namen änderte.
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Chef der islamistischen HTS-Miliz schlägt versöhnliche Tore an
Der Chef der islamistischen HTS-Miliz Ahmed Hussein al-Scharaa schlägt insgesamt versöhnlichere Töne an und gibt sich diplomatisch. Kann man diesen Worten trauen?
Es ist im Augenblick die einzige Option, die wir haben. Und es ist ermutigend, dass er vorerst dazu aufruft, keine Racheakte und keine Gewalt auszuüben und die staatlichen Einrichtungen nicht zu zerstören. Es scheint so zu sein, dass er – zumindest in dieser Phase – vorhat, den syrischen Staat als Ganzes zu verwalten, was im Sinne seiner Bürger wäre. Er ist bemüht, ein pragmatisches Image einzunehmen. Ob das auch der Wahrheit entspricht, das muss die Zukunft zeigen.
Droht in Syrien ein Machtvakuum?
Definitiv. Es gilt jetzt, neue Strukturen und Mechanismen zu finden. Inmitten eines Bürgerkriegs müssen sie ein neues System etablieren. Das ist allerdings schwierig in einem Land, in dem es viele Ethnien und Religionen gibt. Hinzu kommt: Es gibt in der arabischen Welt auch kein Beispiel, an dem sich die Syrer orientieren könnten.
Die Minderheit der Alawiten hat das Assad-Regime unterstützt, was haben diese Menschen nun zu befürchten?
Baschar al-Assad stützte sich in seiner Tyrannei hauptsächlich auf diese Gruppe. Viele Menschen haben durch Alawiten physischen Schaden genommen, sind unterdrückt und gefoltert worden. Es gibt in Syrien nun viele, die noch Rechnungen offen haben.
Als die Hilfe von außen wegbrach, implodierte die syrische Armee bei dem Angriff.
Was bedeutet das konkret?
Racheakte sind definitiv eine Möglichkeit.
Warum gelang den Rebellen so plötzlich der Sturz des Assad-Regimes?
Dieser blitzartige Erfolg zeigt, dass das Assad-Regime auf zwei Säulen stand. Die eine Säule sind die syrische Armee und die Geheimdienste. Die zweite betrifft die Hilfe von außen. In den vergangenen Jahren hat Assad die Armee weder modernisiert noch stieß sie auf breite Akzeptanz in der Bevölkerung. Junge Syrer wurden in einen ungewollten und schlecht bezahlten Wehrdienst gepresst. Als dann auch die Hilfe von außen wegbrach, weil Russland und der Iran mit den Kriegen in der Ukraine und im Libanon eigene Baustellen haben, implodierte die syrische Armee bei dem Angriff.
Video: Jubel und Freudentränen - Menschen feiern bundesweit Assad-Sturz
Hat Putin, der Assad in der Vergangenheit immer unterstützt hat, den syrischen Machthaber fallengelassen?
Russland hat sich eindeutig dazu entschieden, Assad aus zwei Gründen fallen zu lassen. Erstens: Der Krieg in der Ukraine hat oberste Priorität. Und zweitens basiert die russische und auch die iranische Doktrin darauf, dass man lokale Kräfte am Boden unterstützt, aber keine eigene Infanterie entsendet. Und mit dem Wegfall der syrischen Armee blieb Putin keine andere Möglichkeit als das syrische Projekt aufzugeben, auch wenn es für ihn eine Schwächung seines Ansehens im Nahen Osten bedeutet.
Zur Person
Gil Yaron (51) wuchs in Düsseldorf auf und studierte nach dem Abitur Medizin. Anfang der 2000er Jahre arbeitete er in einem israelischen Krankenhaus, entdeckte dann aber seine Liebe zum Journalismus und wechselte den Beruf.
Von 2003 bis 2016 war er als Nahost-Korrespondent für zahlreiche Medien tätig, darunter auch die Fuldaer Zeitung. Anschließend berichtete er exklusiv für die „Welt“ aus dem Nahen Osten. Yaron veröffentlichte zudem mehrere Bücher.
Seit 1. Januar 2020 ist Leiter des Büros des Landes Nordrhein-Westfalen für Wirtschaft, Wissenschaft, Bildung, Jugend und Kultur in Israel. Yaron lebt in Tel Aviv. Er hatte nach dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 auch diese Situation bereits eingeordnet.
Der Iran ist neben Russland einer der Verlierer nach dem Wochenende. Über Syrien hat der Iran die Hisbollah mit Waffen versorgt, diese Achse ist nun weggebrochen. Wie wird der Iran nun reagieren?
Für den Iran bedeutet der Zusammenbruch nicht weniger als eine Katastrophe und stellt den Kollaps seiner Auslandsstrategie der letzten 30 Jahre dar. Der Iran setzte auf Vorwärtsverteidigung. Die iranische Achse bestand aus Hamas, Hisbollah, irakischen Milizen, den Huthis im Jemen und eben Syrien, das als eine Art Drehkreuz diente und es ihnen erlaubte, eine Landbrücke zum Mittelmeer zu bauen, um ihre Leute mit Waffen zu versorgen. Sie konnten so Israel von mehreren Fronten aus bedrohen. Dieses ganze Konzept wird der Iran nun überdenken müssen.
Iran und Russland Verlierer des Wochenendes
Wie kann das aussehen?
Im Prinzip gibt es zwei Optionen. Entweder setzt der Iran auf Ausgleich mit dem Westen und kooperiert mit der internationalen Atomenergiebehörde, oder er wird die Anstrengungen verdoppeln, um von einem atomaren Schwellenstaat zur Atommacht zu werden. Dies bedeutete eine erhebliche Eskalation.
Was halten Sie für wahrscheinlicher?
Das wird in Teheran sicher noch ausdiskutiert. Die müssen erst einmal die Ereignisse verdauen.

Sie haben Israel schon angesprochen. Ist der Machtwechsel in Syrien Chance oder Gefahr für das Land?
Es ist Chance und Gefahr zugleich. Grundsätzlich ist jedem Staat ein stabiler Nachbar lieber – selbst wenn er von einem Diktator beherrscht wird. Dann gibt es wenigstens einen Ansprechpartner, jemanden, mit dem man verhandeln oder den man abschrecken kann. Wenn Syrien zu einem Staat im Chaos wird, könnte Israel von Dutzenden dschihadistischen Organisationen angegriffen werden, ohne wirklich reagieren zu können. Hinzu kommt die Gefahr, dass andere islamistische Kräfte ermutigt werden könnten, aufzubegehren. Bei einem Sturz des jordanischen Königs etwa wäre Israels längste Landgrenze im Osten bedroht.
Das wären die Gefahren. Wie sehen die Chancen aus?
Der Fall des Assad-Regimes bedeutet für Israel eine schwere Schwächung der Erzfeinde wie der Hisbollah und dem Iran. Manche sehen darin eine Möglichkeit der Annäherung zu Minderheiten in Syrien, wie den Kurden aber auch den Drusen oder der säkularen syrischen Opposition, die früher eng mit Israel kooperiert hat.
In der Türkei leben mehr als drei Millionen Syrer, viele sind während des Bürgerkriegs auch nach Deutschland geflohen. Rechnen Sie mit neuen Flüchtlingsströmen oder werden viele Flüchtlinge wieder zurückkehren?
Diese Frage ist noch offen. Eines der Ziele, die Erdogan als Hauptunterstützer der islamistischen Milizen in Syrien verfolgte, war es, dass die syrischen Flüchtlinge, die in der Türkei sind, wieder heimkehren können und die finanzielle Belastung der Türkei geringer wird. Ob diese Rechnung aufgeht, wird sich zeigen.
Wie geht es in den nächsten Wochen weiter?
Die Groß- und Supermächte im Nahen Osten werden sich neu austarieren. Es ist noch völlig unmöglich einzuschätzen, wer bei den Verhandlungen oder Kämpfen, die wir zu erwarten haben, die Oberhand gewinnen wird. Klar ist: Iran und Russland sind eindeutig auf der Verliererseite. Die USA werden sich unter Donald Trump nicht einmischen wollen. Und Türkei und Israel werden versuchen, die zukünftigen Ereignisse in ihrem Sinne zu beeinflussen.