EU-Expertin warnt: Putin hat „viel größere Ziele“ als die Ukraine
Nach der Ukraine folgen die baltischen Staaten: Wladimir Putin wird nach dem Ukraine-Krieg keine Ruhe geben, und die Europäische Union dämmert weiter.
Moskau – „Die Ukraine ist nicht sein eigentliches Ziel, sondern das ist noch viel größer“, sagt Benedikta von Seherr-Thoß. Die Ministerialrätin der Europäischen Union nahm Stellung zur Europäischen Sicherheitspolitik im Bundeswehr-Podcast Nachgefragt und drängte darauf, Wladimir Putin einfach zuzuhören, um die richtigen Lehren aus dem Ukraine-Krieg zu ziehen: „Wir müssen uns verteidigen können, wir müssen abschrecken können, wir müssen resistent sein“, sagte Seherr-Thoß. Sie legt nahe, dass die Zeichen auch für Westeuropa auf Krieg stünden.
Wie Thomas Urban im Magazin Cicero geschrieben hat, sehe sich Putin von der Vorsehung dazu auserwählt, das russische Imperium wiederherzustellen. Offenbar will er für diesen Plan jetzt das Fundament festigen. Auch Valery Fedorow ist überzeugt, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj nie in die Lage kommen wird, Putin in Friedensverhandlungen etwas abzutrotzen –beispielsweise den Rückzug Russlands an die Grenzen der Ukraine im Jahr 1991. Das sei für die Russen inakzeptabel; etwas zu verschenken, bedeute für die Bevölkerung, sich mit der ständigen Bedrohung aus Kiew abzufinden.
Ukraine-Krieg als erster Akt: „Alles für die Front, alles für den Sieg“
„Und das ,kriegerische Russland‘ wird im Gegenteil mobilisiert und handelt nach dem Prinzip ,Alles für die Front, alles für den Sieg‘“, sagt der Politikwissenschaftler und Chef des größten russischen Meinungsforschungsinstituts VCIOM. Für Meinungsforscher Fedorow herrscht in Teilen der Bevölkerung tatsächlich das Bild ihrer Zukunft als „großes Russland“; als „ein Land, das Nein sagen kann!“, als Land, das auf der ganzen Welt für Stärke und Festigkeit gefürchtet und respektiert würde; als ein Land, das den Ukraine-Krieg gewonnen habe und sich womöglich nicht damit zufriedengebe; als ein Land, das eine wichtige Rolle in der Welt spiele. Dies sei das Bild der Zukunft für das „kriegführende Russland“, so Fedorow.
„Putin ist mit dem Krieg auf dem Zenit seiner Macht. Und deshalb wird er nach der Ukraine einen neuen Kriegsschauplatz suchen, wenn er daran nicht gehindert wird.“
Spätestens seit Februar 2022 seien die liberale Weltordnung sowie die europäische Sicherheitsordnung erschüttert, schreibt Andreas Umland für den schwedischen Thinktank Stockholm Center for Eastern European Studies: „Russlands Angriff richtet sich nicht nur gegen die Demokratie der Ukraine, sondern gegen die Staatlichkeit, Grenzen, Souveränität, Identität und Integrität eines UN-Mitgliedstaates.“ Das werde für Putin nur der erste Schritt sein, vermutet Umland.
Auch Andrea Kendall-Taylor und Michael Kofman gehen davon aus, dass der russische Potentat den Point of No Return längst überschritten habe. Die beiden Analysten erörtern im Magazin Foreign Affairs, wie ein ungebremstes Russland den Westen herausfordern werde. „Die Bühne ist bereitet für eine Verschärfung der Konfrontation mit Russland, trotz des offensichtlichen Interesses der künftigen Trump-Regierung an einer Normalisierung der Beziehungen zu Moskau“, schreiben Kendall-Taylor und Kofman.
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Im April vergangenen Jahres hatte sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj explizit gegenüber dem ZDF geäußert: „Wenn die Ukraine diesen Krieg verliert, werden andere Länder angegriffen. Das ist ein Fakt.“ Selenskyj bezog sich beispielsweise auf eine Äußerung von Dmitri Medwedew – in einem Post auf X hatte der ehemalige russische Präsident die Länder Estland, Lettland und Litauen „unsere baltischen Provinzen“ genannt. Diese Haltung ist lang angelegt in der Außenpolitik des Kreml.
Putin in Bedrängnis: Nach eigener Lesart müsse sich Russland offensiv verteidigen
Nach eigener Lesart müsse sich Russland offensiv verteidigen, schreibt Mark Galeotti. Der Autor des deutschen Thinktanks George C. Marshall European Center for Security Studies geht davon aus, dass sich Russland ständig bedroht fühle. Das westliche Verteidigungsbündnis Nato wird als offensiv-aggressiv angesehen. Die baltischen Staaten gelten demnach per se als feindlich, weil sie die strategischen Optionen Russlands einschränken würden, so Galeotti. Russland sähe die baltische Kooperation mit der Nato als ständige Herausforderung für die Sicherheit und Handlungsfreiheit Russlands: „Eine aggressive russische Politik wird daher als proaktive Reaktion auf eine Bedrohung aus dem Ausland angesehen“, wie der Analyst 2019 geschrieben hatte.
Allerdings ist in den vergangenen fünf Jahren wenig passiert, obschon die Brisanz von Galeottis Mutmaßungen zugenommen hat. „Die Interoperabilität der Systeme ist nicht gegeben“, kritisiert Benedikta von Seherr-Thoß. Des Weiteren sei die Rüstungsindustrie außerstande, das zu produzieren, was gebraucht würde, sagt die Ministerialrätin und verweist auf verschiedene Rüstungsinitiativen, die vom acht Milliarden schweren Europäischen Verteidigungsfonds koordiniert würden. Zunächst würde sich die EU aber darum bemühen, mehr Munition zu beschaffen. Die Gemeinsamkeit sei in Ansätzen vorhanden, legt von Seherr-Thoß
„Eine europäische Armee ist doch nur möglich, wenn alle EU-Staaten in ihrer Verfassung verankern, dass ein europäischer Verteidigungsminister sie in den Krieg schicken kann. Das ist ein schöner Traum, mehr nicht. Aktuell läuft es bei der Rüstung sogar in die andere Richtung: „Renationalisierung statt Europäisierung.“ Das sagte kürzlich Armin Papperger, der Vorstandsvorsitzende der deutschen Rüstungsschmiede Rheinmetall, dem Tagesspiegel.
Russlands Eliten: Wenig Interesse an einer Verhandlungslösung, die an eigenen Verzicht gekoppelt wäre
Tatsächlich sei keine Frage, ob Russland eine Bedrohung für die USA und ihre Verbündeten darstelle, schreiben Kendall-Taylor und Kofman. Die beiden Analysten interessiert, „wie das Ausmaß der Gefahr einzuschätzen ist und welche Anstrengungen erforderlich sind, um sie einzudämmen“, wie sie schreiben. Sie rechnen mit großen Anstrengungen: Der Krieg habe Putins Entschlossenheit gestärkt und seine Optionen eingeschränkt, mutmaßen sie.
Das unabhängige russische Medienportal Meduza wiederum berichtet aufgrund von Gesprächen mit russischen Eliten, dass die offenbar wenig Interesse hätten an einer Verhandlungslösung, die eventuell an eigenen Verzicht gekoppelt wäre; ebenfalls seien territoriale Zugeständnisse Putins offenbar kategorisch ausgeschlossen. Im Gegenteil bliebe den Eliten nur die Wahl, den Krieg zu intensivieren, um ihn letztendlich auch vor dem russischen Volk rechtfertigen zu können. Frieden sei demnach lediglich möglich unter Bedingungen, die einer ukrainischen Kapitulation nahekämen. Wie der Thinktank Institute for the Study of War (ISW) den Meduza-Bericht interpretiert, „sei man darauf konzentriert, im Nachkriegsrussland ein ,Bild des Sieges‘“ zu schaffen.“
Das Bild des Westens ist das Gegenteil, wie auch Benedikta von Seherr-Thoß im Bundeswehr-Podcast einräumt, wenn sie davon spricht, dass die Europäische Union gekennzeichnet ist von rüstungspolitischer Kleinstaaterei: „27 Verteidigungsministerien haben 27 Beschaffungsämter. 27-mal wird vieles gemacht, was natürlich sehr teuer und sehr aufwendig ist“, wie sie sagt. Insofern versuche die EU Anreize zu bieten, dass man schon von der Forschung, über die Entwicklung, Beschaffung, also über den gesamten Zyklus kooperiere.
EU in Bedrängnis: Wie viele Modelle an Panzern und Kampfflugzeugen brauchen europäische Armeen
Die entscheidende Frage ist seit mehr als einem halben Jahrhundert: Wie viele Modelle an Panzern, Hubschraubern, Kampfflugzeugen, Lkw oder Drohnen brauchen europäische Armeen, wenn sie Schulter an Schulter auf nahezu gleichem Terrain die gemeinsamen Werte verteidigen – auf Europas Territorium gegen Russland oder vielleicht sogar gegen China. Vor allem, wenn die USA Material besser und günstiger herstellen. Und was zählt für die Europäer: die Einsatzfähigkeit ihrer Armee oder ihre Industriestandorte?
Dabei ist die Idee einer europäischen Armee prinzipiell uralt: Für ein „neues Konzept“ der europäischen konventionellen Streitkräfte hatte schon Helmut Schmidt (SPD) während seiner Zeit als Bundeskanzler geworben, „etwas durch Bereitstellung ausreichender konventioneller Streitkräfte und mittels Integration von deutschen, französischen und Benelux-Truppen unter gemeinsamem französischen Oberbefehl“, wie er in seinem Buch „Menschen und Mächte“ 1987 angeregt hatte.
Fast 40 Jahre später ist Russland vielleicht stärker als je zuvor und die Nato sowie die Europäische Union so dezentral denkend wie eh und je – was möglicherweise eine böse Überraschung provoziert. Sabine Adler prophezeite im vergangenen Jahr gegenüber ZDF heute: Putin sei mit Krieg auf dem Zenit seiner Macht, so die ehemalige Moskau-Korrespondentin des Deutschlandfunks. „Und deshalb wird er nach der Ukraine einen neuen Kriegsschauplatz suchen, wenn er daran nicht gehindert wird.“