„Tahiti näher als Warschau“: Frankreich und Deutschland in Rüstungsfragen häufig zerstritten
Ein neuer Eurofighter und eine Eurodrohne müssen her. Während Russland einfach Krieg führt, kommt Europa in der Rüstung auf keinen gemeinsamen Nenner.
Paris – „Die EU-Armee nimmt längst Gestalt an“, meinte Steffen Dobbert erkennen zu können. Jetzt, sechs Jahre nach seiner Prognose in Zeit Online, mag der heranrollende Europa-Panzer MGCS Einigkeit symbolisieren angesichts eines durch Russlands Präsidenten Wladimir Putin geschürten, möglichen Weltkrieges. Die gemeinsame Raketenabwehr Euopean Sky Shield Initiative (ESSI) aber hat die alten Gräben deutlich gemacht zwischen den beiden europäischen Korsettstangen Deutschland und Frankreich: Frankreich verzichtet. Auch der deutsch-französische Gemeinschaftsflieger FCAS (Future Combat Air System) ist bisher lediglich eine Vereinbarung – aber schon aus dem Eurofighter war Frankreich letztlich ausgestiegen. Eine gemeinschaftliche europäische Drohne hat auch schon mehr als acht Jahre Entwicklung hinter sich.
Die Liste abgebrochener deutsch-französischer Rüstungsprojekte ist durchaus beachtlich. Sven Arnold sieht Deutschland und Frankreich zwar in einer Wertegemeinschaft verwoben, aber eine gemeinsame Armee hält er für illusorisch; allein schon formal: Die französische Armee untersteht dem Präsidenten, Deutschland hält eine Parlamentsarmee. Immerhin hat sich Frankreich 2016 gegen ein selbst produziertes Sturmgewehr für die Modernisierung seiner Streitkräfte entschieden und lässt mit dem HK61F vom gleichen Hersteller wie die Bundeswehr produzieren – was in Frankreich allerdings schon deutlich kritisiert wurde. „Es tut sich viel auf französischer Seite“, behauptet dennoch der Politikwissenschaftler der Stiftung für Wissenschaft und Politik.
„Schon 1991 wollte der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl eine länderübergreifende europäische Armee, 1996 wollte sie auch der damalige französische Premier Alain Juppé.“
Die entscheidende Frage ist seit mehr als einem halben Jahrhundert: Wie viele Modelle an Panzern, Hubschraubern, Kampfflugzeugen, Lkw oder Drohnen brauchen europäische Armeen, wenn sie Schulter an Schulter auf nahezu gleichem Terrain die gemeinsamen Werte verteidigen – auf Europas Territorium gegen Russland oder vielleicht sogar gegen China. Vor allem, wenn die USA Material besser und günstiger herstellen. Und was zählt für die Europäer: die Einsatzfähigkeit ihrer Armee oder ihre Industriestandorte?
Europas Tunnelblick: unvorbereitet auf Szenarien wie in der Ukraine
Große Vorhaben stottern häufig vor sich hin. „Die ,Nato-Kultur‘ sei in der französischen Generalität ,schwach ausgeprägt‘“, schreibt Publizist Jean-Dominique Merchet noch Anfang 2024, worüber Jacob Ross berichtet. Der Politikwissenschaftler beurteilt Frankreichs Armee für die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik als gefangen in einem „strukturellen Konservatismus“. Deutschland sei immer Frontstaat gewesen mit Blickrichtung auf den Warschauer Pakt, Frankreichs Armee sei vorwiegend im Auslandseinsatz gewesen, beispielweise in Afrika oder Indochina; das verhindere die „Vorbereitung auf Szenarien wie in der Ukraine“, wie Ross schreibt.

Ein deutsch-französisches Kampfflugzeug könnte also wieder eine Luftnummer bleiben, gemeinsame Ausrüstung der Seestreitkräfte ist längst Geschichte. 34 bilaterale Rüstungsprojekte hatte 2018 der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages aufgelistet, nur zwei Drittel sind realisiert worden, zum Teil unter starken Geburtswehen – elf Jahre hatte beispielsweise das gemeinsame Transportflugzeug Airbus A400M bis zur Praxisreife gebraucht. Der Eurofighter bleibt in der Liste außen vor, aber auch der ist als deutsch-französische Kooperation abgestürzt – und gibt insofern ein schlechtes Beispiel ab für das FCAS-Projekt.
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Europas Drohne: Jahrelange Entwicklung, während sich die Ukraine im Baumarkt bedient
Die Bereitschaft zu gemeinsamen Rüstungsprojekten sah Zeit-Autor Dobbert vor sechs Jahren „nie so ausgeprägt wie in den vergangenen zehn Jahren“. „Schon 1991 wollte der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl eine länderübergreifende europäische Armee, 1996 wollte sie auch der damalige französische Premier Alain Juppé“, schrieb Dobbert. Fast drei Jahrzehnte später hängt die EU-Armee beziehungsweise eine halbwegs gleich ausgerüstete Nato-Streitmacht weiter in nationalen Befindlichkeiten fest – wie die European Sky Shield Initiative belegt. Grundlage des deutsch-französischen Miteinanders ist der 1963 zwischen Bundeskanzler Konrad Adenauer und Präsident Charles de Gaulle geschlossene „Elysée-Vertrag“ – dessen Update bildet der „Aachener Vertrag“ von 2019 zwischen Angela Merkel und Emmanuel Macron.
Nach 60 Jahren könnten beide Nationen weiter vorangeschritten sein. Inzwischen ist der europäische Panzer in Marsch gesetzt worden – auf dem Papier; Polen, als das am stärksten durch Russland bedrohte Nato-Mitglied rüstet inzwischen mit Panzern aus Korea auf. 2018 hatte erstmals auf der Internationalen Luftfahrtausstellung in Berlin ein Modell der deutsch-französischen Aufklärungs-Drohne „Male rpas“(European Medium Altitude Long Endrurance Remotely Piloted Aircraft System, kurz: „Eurodrohne“) gestanden, insgesamt sechs Jahre wurde das Für und Wider diskutiert, 2028 könnten Drohnen schließlich an die Truppe ausgeliefert werden – all das während sich Russland und die Ukraine mit Panzern aus dem Kalten Krieg und Drohnen aus dem Baumarkt bekriegen: billig, zu Tausenden schnell verfügbar und absolut kriegsentscheidend.
Europas Engstirnigkeit: In der Angst gegen Russland vereint, in der Wirtschaft entzweit
2016 hatten sich Berlin und Paris gegenseitig versichert, ihre Rüstungsindustrien stärker zu verzahnen und ihre Armeen europäisch auszurüsten, die Drohne war ein Projekt davon. Dobberts vorwitzige Prognose aus 2018 kritisierte Autor Detlef Puhl bereits zwei Jahre später als vermeintliches „Ding der Unmöglichkeit“, wie er schrieb. Die langen Entwicklungszeiten von letztlich umgesetzten Projekten wie dem Hubschrauber „Tiger“ oder dem Transportflieger A400M „lassen auch an der Fähigkeit zu effektiver Kooperation zweifeln“, schreibt Detlef Puhl für das Studienkomitee für deutsch-französische Beziehungen. Zehn von 35 gemeinsamen deutsch-französischen Projekten zählt er als gescheitert auf – bezogen auf einen Bericht des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages von 2018.
Bilateral begonnene und zum Teil national weiterverfolgte Projekte
Abgebrochen 1965 | „gemeinsamer Kampfpanzer“, Vorläufer Leopard 1“ |
Abgebrochen 1982 | „Kampfpanzer 90“ |
Abgebrochen 1995 | „Trilateraler Versuchsträger“ (Raketenstartplattform auf Leopard-Farhrgestell) |
Abgebrochen 2004 | Panzerabwehrraketensystem „Trigat“/ „PARS 3 LR“ |
Abgebrochen 1999 | Gepanzertes Transport-Kraftfahrzeug (GTK) „Boxer“ |
Abgebrochen 1995 | Flugabwehrraketensystem „MEADS“ |
Abgebrochen 1988 | Marschflugkörper „Apache“ |
Abgebrochen o. Ang. | „Chris“ & „Durandal“ – Projekte für neuartige Munitionstypen |
Abgebrochen 1984 | Kampfflugzeug Eurofighter |
Abgebrochen 1990 | Anti-Schiffs-Rakete „ANS“ |
Marco Seeliger erklärte im vergangenen Oktober sogar die, seiner Meinung nach, endgültige Kapitulation grenzüberschreitenden militärischen Miteinanders: „Merkel und Macron wollten sechs milliardenschwere Rüstungsprojekte vorantreiben. Geblieben ist ein einziges echtes Rüstungsprojekt“, wie die Neue Zürcher Zeitung titelte. Stetig strittiger Punkt zwischen den beiden beteiligten Nationen seien die Sicherung „ihrer industriellen technologischen Kompetenzen“, wie Seeliger schreibt – prinzipiell im gleichen Tenor wie eigentlich alle Beobachter.
Von einer rüstungspolitischen Union beziehungsweise von einer einheitlichen Armee ganz weit entfernt, erscheint Europa aktuell dem Politikwissenschaftler Hans Kundnani: „Trotz des Hypes um ein ‚geopolitisches Europa‘ bleibt die Rolle der EU in Sachen Verteidigung hauptsächlich eine wirtschaftliche, sei es durch die Koordinierung von Sanktionen oder durch die Förderung der Rüstungsindustrie in den EU-Mitgliedstaaten“, schreibt er für die Friedrich-Ebert-Stiftung.
Europas Panzer: Im dritten Anlauf zu einem Ergebnis, das Putin das Fürchten lehren könnte
Als Ziel der Franzosen wird allgemein gesehen, dass sie die Rüstungsgüter der USA aus Europa heraushalten wollen und ihre eigenen Rüstungsexporte forcieren. Das Transportflugzeug Transall mag als Erfolg der deutsch-französischen Leistungsfähigkeit gelten – dessen Nachfolger, der Airbus A400M als das genaue Gegenteil: als eine „schwere Belastung für die deutsch-französische Rüstungskooperation“, wie die NZZ geurteilt hat. Auch dieses Projekt wurde teurer als erwartet und zog sich über mehr als 20 Jahre, um viele Erwartungen zu enttäuschen: Jede Flugstunde kostet 60 Stunden Wartungszeit, versprochen gewesen seien zehn bis 20, hat die Deutsche Welle berichtet.
Immerhin haben sich die beiden Partner jetzt beim künftigen gemeinsamen Panzer zusammengerauft – im dritten Anlauf und sicherlich unter dem Druck des Ukraine-Krieges mit seinen neuen Anforderungen an Gefechte. Ursprünglich sollte der französische „Leclerc“-Ersatz „Interventionsfähigkeit“ beweisen, also leichte Verlegbarkeit für etwaige Einsätze in Nordafrika. Den „Leopard“-Erben hatten sich deutsche Militärs als rollende Festung gewünscht für einen möglichen Kontinentalkrieg, wie Detlef Puhl schreibt. Der kommende Euro-Flieger FCAS hängt auch noch in der Luft: 2017 war das Projekt angeschoben, Ende 2022 sah die Süddeutsche Zeitung den Jet quasi beerdigt.
Den Eurofighter hatte Frankreich links liegen lassen
Frankreich war die Federführung übertragen worden, als Grundlage nehmen die ihren Rafale-Jäger, also ihren Gegenentwurf zum Eurofighter; deutsche Haushaltspolitiker sahen bisher, laut der SZ, ihre industriellen Kompetenzen als zu gering berücksichtigt und stellen das Projekt in Frage – auch angesichts der Kosten. Die Entscheidung der Bundesregierung für den Kauf der F-35 aus den USA schwächt das Projekt zusehends. Den Eurofighter wiederum hatte Frankreich links liegen lassen – auch ihnen war dieses Projekt unter deutscher Federführung zu teuer und zu komplex – eine Gegenfinanzierung über den Export nach Saudi-Arabien hatte Deutschland ausgeschlossen.
Dabei hatten sich ursprünglich Großbritannien, Frankreich, Italien, Spanien und Deutschland verständigt, einen gemeinsamen Flieger zu konzipieren – geteilte Kosten sollten höhere Stückzahlen ermöglichen. Wie das Magazin Cicero berichtet, sollte das europäische Projekt unter Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) und Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß (CSU) „Jäger 90“ heißen; die Projektleitung der deutschen Luftwaffe hatte sich dafür ausgesprochen, „nur Karosserie und Elektronik neu fertigen zu lassen, aber Triebwerke und Radargeräte der USA zu nutzen, um ,exotische, teure Lösungen‘ zu vermeiden“.
Europas Armee: Eine Idee, die schon Helmut Schmidt im Kalten Krieg hatte
Die Entwicklung verlief konträr dazu, wie Cicero weiter schreibt: Frankreich hatte das Projekt inzwischen verlassen, aber dennoch sollte „jede Schraube von der europäischen Industrie neu erfunden werden“; was die Anforderungen des Militärs sprengte. Insofern dauerte auch dieses Projekt länger als geplant: „Erst 2004 wird das 1983 bei Kohl bestellte Flugzeug in Dienst genommen“, schreibt Cicero.
Emmanuel Macron hat sich jüngst als erster westlicher Staatschef für einen stärkeren Einsatz der Nato in der Ukraine ausgesprochen. Und damit erneut für Zwist unter den Regierungen der Europäischen Union gesorgt. Dabei ist die Idee einer europäischen Armee prinzipiell uralt: Für ein „neues Konzept“ der europäischen konventionellen Streitkräfte hatte schon Helmut Schmidt (SPD) während seiner Zeit als Bundeskanzler geworben, „etwas durch Bereitstellung ausreichender konventioneller Streitkräfte und mittels Integration von deutschen, französischen und Benelux-Truppen unter gemeinsamem französischen Oberbefehl“, wie er in seinem Buch „Menschen und Mächte“ 1987 angeregt hatte.
Für Fachjournalist Merchet muss das revolutionär anmuten. Laut Jacob Ross habe der verteidigungspolitische Beobachter seiner Landsleute noch Anfang des Jahres behauptet: „Tahiti sei für Frankreichs Armee noch immer wichtiger als Warschau.“ (Karsten Hinzmann)
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