Nato-Pläne für Rüstungsindustrie wohl längst „überfällig“: Ukraine-Krieg „ist keine Reality-TV-Show“
Nato-Generalsekretär Stoltenberg kündigt weitere Unterstützungen für die Ukraine an. Einige der Entscheidungen kommen jedoch mit Verspätung, kritisieren Experten.
Berlin – Einer Expertin zufolge waren viele notwendige Hilfsmaßnahmen der Nato für die Ukraine schon überfällig – und es ist längst noch nicht alles getan. „Wir müssen endlich einen strategischen Paradigmenwechsel einleiten“, sagte Dr. Stefanie Babst im Interview mit der Wirtschaftswoche. Vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs werden auch Forderungen nach einem Ausbau der westlichen Rüstungsindustrie lauter.
Kritik an Nato-Plänen: „Für die Verbündeten kein Grund, sich zu feiern“
Der 75. Jahrestag der Nato sei für die Verbündeten kein Grund, sich zu feiern, sagte Babst. „Allein im letzten Monat hat Moskau über 3000 Raketen und Drohnen auf ukrainische Städte abgefeuert. Menschen sterben dort jeden Tag. Der Krieg in der Ukraine ist keine Reality-TV-Show, die wir nach zehn Minuten ausschalten können“, so das Mitglied im Präsidium der DGAP (Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik) auf die Frage, ob eine Nato-Präsenz in der Ukraine eine Eskalation mit Russland provozieren könnte. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg warnte bereits vor einer jahrzehntelangen Konfrontation mit Russland.
Babst kritisiert, dass einige Entscheidungen zu spät getroffen wurden – wie zum Beispiel die Beitrittverhandlungen mit der Ukraine und langfristige Finanzhilfen in Form eines Hilfsfonds. Nach Angaben von Diplomaten geht es dabei um 100 Milliarden Euro über fünf Jahre. Das Geld soll für Waffenlieferungen und Finanzhilfen verwendet werden. Die Summe ist allerdings nur ein erster Vorschlag und kann sich in den nun folgenden Verhandlungen noch ändern.
EU und Nato planen „Geldtopf“ als Finanzierungshilfe für Ukraine und Rüstungsindustrie
Babst spricht sich dafür aus, einen solchen ‚Nato-Topf‘ eng mit der EU zu koordinieren. Die EU hatte in den vergangenen Wochen Pläne zum Ausbau einer gemeinsamen europäischen Rüstungsindustrie vorgelegt. Das Haupt-Ziel: die Produktion von Rüstungsgütern massiv ankurbeln. Zudem will die EU-Kommission sich selbst zu einer Art Schaltstelle machen, die den Bedarf an Waffen und militärischer Ausrüstung prüft und koordiniert.
Um die Produktionskapazitäten der europäischen Rüstungsindustrie mit einer Milliarde Euro zu subventionieren sei ein brandneuer EU-Geldtopf vorgesehen, mit dem Namen „Fund to Accelerate Defence Supply Chain Transformation“ (zu Deutsch „Fonds zur Beschleunigung der Umgestaltung der Lieferkette für Verteidigungsgüter“), schreibt das Magazin Politico.
Strategien für Rüstungsindustrie: Mehr Aufträge für westliche Unternehmen
Ohnehin dürfte die Finanzierung zur Stärkung der westlichen Rüstungsindustrie ein Knackpunkt bleiben. Laut Stoltenberg investieren die Europäer 2024 insgesamt die Rekordsumme von 380 Milliarden Dollar in die Rüstung. Er lobte die höheren Rüstungsausgaben, deutete allerdings gleichzeitig an, dass für die Ukraine mehr getan werden muss. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) fordert das in ähnlicher Form seit Anfang des Jahres von den europäischen Partnern.
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Die EU-Kommission will zudem Mitgliedstaaten zum Kauf bei EU-Unternehmen zu bewegen. Ähnliches hatte auch Stoltenberg zu Beginn des Jahres 2024 gefordert und sprach sich für mehr und schnellere Aufträge für Europas Rüstungsunternehmen aus. In Marktwirtschaften bräuchten Waffenhersteller unterschriebene Verträge, damit sie ihre Produktion hochfahren.
Strategie für westliches Aufrüsten: Nato liefert keine Waffen
Künftig solle zudem der Vorschlag von Generalsekretär Stoltenberg diskutiert werden, dass die Nato künftig zumindest die Waffenlieferungen aus den einzelnen Mitgliedsstaaten besser koordiniere, heißt es aus Nato-Kreisen. Das soll der Ukraine auch Planungssicherheit geben. Babst befürwortete den Vorstoß, dass die Nato mehr Koordinierungsarbeit übernimmt, gegenüber der Wirtschaftswoche. Dennoch: „Auch dieser Schritt ist längst überfällig und hätte bereits vor zwei Jahren geschehen müssen.“
Bei Waffenlieferungen an die Ukraine hat sich die Nato bislang rausgehalten, um zu keiner Kriegspartei zu werden. Um Verbündeten zu helfen, ihre eigenen Bestände aufzufüllen, hat die Nato unter anderem mit einem deutschen und einem französischen Hersteller einen Rüstungsdeal im Umfang von 1,1 Milliarden Euro abgeschlossen. Die Firmen Junghans Microtec aus Baden-Württemberg und der französische Rüstungskonzern Nexter sollen dabei 155-Millimeter-Artilleriegranaten liefern, kündigte Stoltenberg an.