Christian Sewing im Interview - Angst vor Trump, Sorge wegen Merz? Top-Banker zeichnet rosiges Bild – mit einem Appell

Deutsche-Bank-Chef Christian Sewing sprach am Donnerstag Klartext auf einer Veranstaltung von „The Pioneer“. Es ging um die von Union und SPD geplanten Kreditprogramme für Infrastruktur und Rüstung, die Reformbedürftigkeit des Wirtschaftsstandortes Deutschland und die Volatilität am amerikanischen Aktienmarkt. Eine verknappte Version des rund 45-minütigen Gesprächs lesen Sie hier.

Pioneer: Wir erleben auf den amerikanischen Kapitalmärkten aktuell eine Achterbahnfahrt. Ist das die neue Normalität unter Trump?

Christian Sewing: In diesen Zeiten müssen Sie bei jeder Kapitalanlage etwas langfristiger denken. Die Börse in den USA ist in den letzten zwölf Monaten enorm nach oben gegangen und wir sehen seit der neuen Administration eine Korrektur. Das sind die Volatilitäten, mit denen man rechnen muss. Und in den nächsten Wochen auch weiterhin zu rechnen hat.

„Europa wird von der Prioritätenliste abrutschen“

Sie appellieren also an die Gelassenheit der Anleger?

Sewing: Diese strukturellen Änderungen, die wir jetzt sehen, auch hinsichtlich der Zoll- und Tarifdiskussion, können zu einer enormen Verschiebung der wirtschaftlichen Gewichte führen. Deswegen ist es wichtig, dass wir in Europa darauf reagieren.

Aber wie?

Sewing: Indem wir unseren eigenen Markt stärken. Wir müssen unseren eigenen Weg suchen und der heißt: der europäische Weg. 

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Und wird dieser europäische Weg weiterhin einer sein, bei dem man sich auf die USA verlassen kann?

Sewing: Wir müssen davon ausgehen, dass das Interesse Amerikas an Europa nachlässt. Es findet dort eine Re-Orientierung hinsichtlich des asiatisch-pazifischen Raumes statt. Dort ist die Technologie. Da ist die Demografie günstiger und da finden die Zukunftsinvestitionen statt und deswegen wird Europa von der Prioritätenliste abrutschen.

„Dann hat ein Vorstand seinen Job nicht gut gemacht“

Amerika entfremdet sich, China wird zum Rivalen und das billige Russengas gibt es auch nicht mehr: Was bedeutet das alles für unser exportorientiertes Geschäftsmodell?

Sewing: Das Geschäftsmodell Deutschlands hat sich geändert. Das erfährt jedes Unternehmen mindestens einmal in seiner Geschichte. Wichtig ist, dass wir verstehen, was hier eigentlich abläuft. Es wird eine strukturelle Verschiebung geben, wo auch Deutschland verstehen muss: Die Zeit, als wir die Exportnation Nummer eins waren, nach Amerika und hinter China, wird so nicht mehr wiederkommen.

Das heißt, alle deutschen Vorstände wären gut beraten, sich ein Wochenende einzuschließen und offen zu fragen, was das für das eigene Geschäftsmodell bedeutet?

Sewing: Ich würde einen Schritt weitergehen. Wenn ein Vorstand das bislang noch nicht getan hat, dann hat er seinen Job nicht gut gemacht. Das Thema gibt es nicht erst seit dem 20. Januar. Das Thema gibt es schon seit der Biden-Administration. Der Inflation Reduction Act war nichts anderes als ein America-First-Programm. 

Positives Urteil der Kapitalmärkte für Schuldenpaket

Wir erleben in Deutschland – durchaus als Reaktion auf US-Präsident Donald Trump – eine Zeitenwende bei der Union, mit einem Kreditpaket, das alle bisherigen Dimensionen sprengt. Überrascht?

Sewing: In der Höhe hätte ich das nicht erwartet, aber ich glaube, von der Zeichensetzung und von der Verkraftbarkeit ist es machbar. Das Entscheidende ist nicht die Höhe des Pakets. Das Entscheidende ist, dass dieses Paket von strukturellen Reformen in Deutschland und in Europa begleitet wird.

Heißt konkret?

Sewing: Wir müssen wieder Strukturen für erfolgreiches Wirtschaften schaffen, Bürokratie zurückfahren, Regulierung reduzieren, Arbeit verstärkt incentivieren; und wir müssen die Energiepreise nach unten bringen, und zwar strukturell.

Wie haben die Kapitalmärkte auf die Berliner Kreditpläne reagiert?

Sewing: Standard & Poor’s ist rausgekommen und hat gesagt: Dieses Paket ist, wenn Strukturmaßnahmen dazu kommen, ‚credit positive‘. Sie können kein besseres Urteil bekommen.

Warum ist das so?

Sewing: Weil Deutschland es sich nach den Jahren solider Haushaltsführung und moderater Schuldenquoten leisten kann. Weil man am Kapitalmarkt davon ausgeht, dass wenn die Investitionen wirklich für Zukunftsinvestitionen genutzt werden und nicht zur Umverteilung, dass wir dann ein Wirtschaftswachstum produzieren können, das wieder bei rund zwei Prozent liegt. 

„Die Investoren wollen gern in Europa anlegen“

Der Kapitalmarkt ist also positiv gegenüber Deutschland eingestellt, obwohl das Land stagniert? 

Sewing: Es liegen weltweit hohe Billionensummen in Dollar an Liquidität bereit zum Investment. Diese Investmentkapazität wartet auf rentable Anlagen. Die Investoren wollen sogar gern in Europa anlegen. Sie lieben Unternehmen in Europa, insbesondere in Deutschland, sehen allerdings die strukturellen Schwächen. Die müssen wir angehen. In einer funktionierenden Wirtschaft könnten 90 Prozent der Gelder von Privatinvestoren kommen und nur zehn Prozent vom Staat. Da müssen wir hinkommen; deswegen ist es so wichtig, dass wir uns für den Kapitalmarkt öffnen.

Laut einer Prognose des Deutsche Bank Research Institute würde, wenn nichts passiert, bei den derzeitigen Wachstumsraten das deutsche Pro-Kopf-Einkommen – das heute schon ein Drittel unter dem der USA liegt – auf die Hälfte des US-Niveaus schrumpfen. Das wäre schmerzhaft, oder?

Sewing: Die Zahl ist brutal. Deshalb gilt: Das Wichtigste, um die Demokratie auch in Deutschland zu stärken und zu erhalten, sind Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit. Wenn wir es nicht schaffen, um zwei Prozent zu wachsen, können wir in unsere Infrastruktur nicht investieren und wir können die Rente nicht bezahlen. Und ich möchte nicht wissen, was dann mit unserer Demokratie beziehungsweise mit unseren etablierten Parteien passiert. 

„Wir müssen ehrlicher zur Bevölkerung sein“

Wie meinen Sie das?

Sewing: Ich bin der festen Überzeugung, wir müssen ehrlicher zur Bevölkerung sein. Wir werden uns diese Rente in zehn Jahren nicht mehr erlauben können. Und jeder, der sich in zehn Jahren auf die Rente verlässt, wird enttäuscht sein. Sie wird nämlich weniger sein, als das, was wir heute erwarten. Und deswegen ist es so wichtig, dass wir, um überhaupt die Rente stabil zu halten, ein Wirtschaftswachstum von zwei Prozent erreichen. 

Und wenn das nicht gelingt?                 

Sewing: Wenn wir in den nächsten vier Jahren das Land nicht auf Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit trimmen, werden bei der nächsten Bundestagswahl weder die SPD noch die CDU die größte und die stärkste Partei in Deutschland sein. Und das müssen wir verhindern.

Wodurch?

Sewing: Dadurch, dass wir wieder ökonomisch stark werden und Investitionen anziehen. Ausländische Investoren denken über uns: Mikro gut, Makro schlecht. Sie denken aber auch: Wenn ihr wieder in Europa investiert, kommen wir auch.

Wenn das nicht passiert, sagen Sie, liegt die AfD 2029 vorne? 

Sewing: Das befürchte ich. Aber wir haben eine Chance. Und ich finde, wir als Wirtschaftsführer sind jetzt gefordert, mitzumachen, auch wenn uns nicht alles zu 100 Prozent gefällt. Für mich gilt: Egal wo ich auf der Welt war, ich bin immer glücklich, nach Deutschland zurückzukommen. Jetzt müssen wir dem Land etwas zurückgeben.

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Fazit: Hier spricht ein Wirtschaftsführer – frei von übertriebener politischer Korrektheit – über den Ernst der Lage – und warum er dennoch nicht verzweifelt. Pflichtlektüre für alle Verzagten. Und Pflichtlektüre auch für alle, die glauben, es kann so weitergehen wie bisher.