Viele Schwachpunkte - Retten 4000 Euro unser Rentensystem? Was hinter der Idee des Börsenchefs steckt
Stephan Leithner hat zu Jahresbeginn den Job als Vorstandschef der Deutschen Börse angenommen. Der 58-jährige Österreicher äußerte sich jetzt in einem seiner ersten Interviews in dieser Position mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung auch zu den CDU-Plänen einer Frühstartrente. Die will die Union noch in den Koalitionsverhandlungen mit der SPD aushandeln.
Ihre Grundidee ist, dass der Staat jedem Kind ab dem sechsten Geburtstag zehn Euro pro Monat in ein Depot einzahlt, das dann als „Frühstart“ für die private Altersvorsorge gilt. Die Kosten für den Staat wären gering, aber jedes Kind könnte schon früh den Zinseszins-Effekt ausnutzen. Selbst ohne weitere eigene Einzahlung würde das Frühstart-Depot, wenn es mit sieben Prozent pro Jahr wächst, bis zum Renteneintritt mit 67 Jahren immerhin 59.000 Euro ausmachen.
Leithner hingegen hat eine andere Idee für die Frühstart-Rente: „Geben wir doch jedem Kind 4000 Euro bei Geburt, verbinden das mit einem Arbeitslebenszyklus und aus den 4000 Euro werden mit sieben Prozent Verzinsung knapp über 370.000 Euro Pensionskapital“, sagt er in dem Interview und schiebt gleich hinterher: „4000 Euro für jedes Kind und das Rentenproblem wäre für Generationen gelöst.“ Das klingt zu simpel, um wahr zu sein, weswegen wir uns die Idee des Börsenchefs einmal genauer ansehen.
Stimmt die Rechnung mit 4000 Euro Startkapital und 370.000 Euro Vermögen?
Ja. Unter den von Leithner getroffenen Annahmen stimmt das. Ein neugeborenes Kind würde aktuell mit 67 Jahren in Rente gehen. In diesen 67 Jahren würden 4000 Euro mit einer Verzinsung von 7 Prozent pro Jahr zu 372.197 Euro. Wer die Rente für besonders langjährig Versicherte nach 45 Arbeitsjahren und mit dem 65. Geburtstag in Anspruch nähme, der hätte 325.091 Euro angespart.
Wie viel Rente ergibt sich dadurch?
Männer beziehen derzeit rund 18,8 Jahre Rente, bei Frauen sind es mehr als 21 Jahre. Im Schnitt kommen beide Geschlechter auf 20,5 Jahre. Gehen wir davon aus, dass eine Auszahlungsstelle auch länger Lebende absichern müsste, könnte diese mit 25 Jahren Rentenbezugsdauer kalkulieren. Bei 372.197 Euro wären das also 1240 Euro pro Monat. Dabei ist nicht berücksichtigt, dass das noch nicht ausgezahlte Vermögen noch weiter anwachsen würde.
Wie kommt Leithner auf 4000 Euro und 7 Prozent Zinsen?
Die 4000 Euro Startkapital scheinen willkürlich gewählt zu sein. Es ist jedenfalls nicht ersichtlich, warum sich mit 3000 Euro oder 5000 Euro wesentliche Vor- oder Nachteile in dem Konzept ergeben würden. Die Zahl hat aber nicht Leithner selbst gewählt. Sie stammt vom CDU-Politiker Kai Whittaker. Der hatte die Idee des Rentenfonds ab Geburt schon 2021 im Spiegel vorgeschlagen. Innerhalb seiner Partei konnte er sich damit aber nicht durchsetzen, am Ende setzte die Union auf die jetzige Idee der Frühstart-Rente. Whittakers Konzept gleicht aber fast exakt dem, was Leithner jetzt vorschlägt.
Die sieben Prozent jährliche Rendite entnimmt der Börsenchef dem Renditedreieck des Deutschen Aktieninstitutes. Das ist ein Schaubild, welches die durchschnittliche jährliche Rendite einer Anlage in den deutschen Leitindex Dax angibt – je nach Start- und Zieljahr. Nach mindestens 30 Jahren Geldanlage kommen Sie hier auf durchschnittlich 7,8 Prozent. Gut möglich also, dass Leithner diesen Wert der Einfachheit halber abgerundet hat. Es zeigt jedenfalls, dass seine Rendite-Annahme realistisch ist. Whittaker hatte in seinem Konzept noch mit 6 Prozent gerechnet. Woher der Unterschied kommt und welche Rolle er spielt, erklären wir später.
Generell sind beide Renditewerte aber optimistisch berechnet. Zwar wächst der Dax tatsächlich um durchschnittlich rund 8 bis 9 Prozent pro Jahr, allerdings würde eine solche Rente und der daraus resultierende Staatsfonds auch Kosten verursachen – etwa für das Personal, das ihn verwaltet. Er könnte zudem auch nicht nur in den Dax investieren, sondern müsste seine Anlagen diversifizieren. Die FDP hatte für das Generationenkapital deswegen nur mit 5,5 Prozent Netto-Rendite pro Jahr gerechnet.
Was würde eine solche Rente kosten?
Leithner rechnet im Interview mit rund drei Milliarden Euro pro Jahr. Auch das ist realistisch. Vergangenes Jahr wurden hierzulande 680.000 Kinder geboren. 4000 Euro für jedes von ihnen wären Gesamtkosten für den Staat von 2,7 Milliarden Euro. In den Jahren von 2016 bis 2022 lagen die Geburtenzahlen zwischen 700.000 und 800.000 Kindern pro Jahr. Das wären dann Kosten zwischen 2,8 und 3,2 Milliarden Euro.
Lösen die 4000 Euro also unser Rentenproblem?
Nein – jedenfalls nicht in der kompletten Art, wie es Leithner darstellt. Um es salopp zu sagen: Wenn sich unser Rentensystem so einfach retten ließe, dann hätte es schon längst jemand gemacht. Unstrittig ist mittlerweile, dass es die gesetzliche und betriebliche Rente allein nicht mehr ausreichen wird und die private Vorsorge massiv gestärkt werden muss. Die FDP hatte sich in der Ampel-Koalition dafür fast mit dem „Generationenkapital“ durchgesetzt, bei der CDU ist es jetzt die „Frühstartrente“ und Leithner schlägt eben diese Variante vor. Es gäbe auch noch weitere Modelle. Doch sie alle haben Tücken. Das sind die Schwachstellen des einfachen Konzeptes in der gesellschaftlichen Realität:
Was passiert mit der gesetzlichen Rente?
Von der neuen Rente könnten nur ab jetzt geborene Kinder profitieren – und das auch frühestens in 67 Jahren. Alle 83 Millionen aktuell lebenden Bundesbürger müssten weiterhin aus der gesetzlichen Rentenkasse bezahlt werden. Leithners Vorschlag würde also an der Finanzierung des Rentensystems für 67 Jahre nichts ändern. Heute umgesetzt, müssten Renten noch bis 2092 voll aus der Rentenkasse bezahlt werden. Auch danach wird es diese wohl noch brauchen, denn 1240 Euro monatlich dürften kaum zum Leben im Alter ausreichen. Das große Problem unseres Rentensystems ist aber der demographische Wandel, also vor allem, dass die geburtenstarke Generation der Babyboomer jetzt in Rente geht. Dieser Wandel wird in den kommenden 25 bis 30 Jahren große Kosten auf das Rentensystem aufbürden. Leithners Idee würde dagegen überhaupt nicht helfen, weil sie eben erst in 67 Jahren einen Effekt hätte.
Wer legt das Geld an?
Leithner sagt in dem Interview nur, der Staat solle jedem Kind 4000 Euro zahlen. In dem Fall würden die Eltern die Summe bekommen und müssten sie gewinnbringend anlegen. Da das Geld für die Altersvorsorge bestimmt ist, kann es also schon einmal nicht an die Eltern ausgezahlt, sondern bestenfalls in einen Fonds gelegt werden. Doch wer bestimmt dann, in was das Geld angelegt wird? Dürfen die Eltern darüber bestimmen, wird sich schnell eine soziale Ungleichheit ergeben. Kinder aus wohlhabenderen Familien haben wahrscheinlicher Eltern, die sich mit Geldanlagen auskennen, weil sie eben selbst das Spargeld dafür haben – während dies Eltern mit niedrigem Einkommen fehlt und damit auch das Wissen über Geldanlagen. So würden am Ende Kinder aus wohlhabenderen Familien höhere Renten bekommen und Kinder aus ärmeren Familien niedrigere Renten. Das kann nicht im Sinne des Staates sein.
Whittaker hatte deswegen vorgesehen, dass der Staat die 4000 Euro nicht an die Eltern auszahlt, sondern alle Zahlungen in einem Staatsfonds sammelt und dort anlegt. Dann ist aber das gesamte Konstrukt mit den 4000 Euro pro Kind absurd. Einfacher wäre dann, der Staat gründet einen Staatsfonds und würde die gesetzlichen Renten aus diesem mit einem bestimmten Betrag pro Jahr bezuschussen – was wiederum das Konzept des FDP-Generationenkapitals ist. Für das wollte die Partei sogar 10 Milliarden Euro pro Jahr in einen Fonds zahlen, der dann schon ab 2035 Erträge geliefert hätte und nicht erst 2092.
Welche Rolle spielt die Inflation?
Hier kommen wir zu dem entscheidenden Unterschied zwischen den Rechnungen von Whittaker und Leithner. Der CDU-Politiker hatte mit 6 Prozent Rendite seines Fonds gerechnet, weil er von den aufgerundet 8 Prozent Dax-Rendite noch 2 Prozent durchschnittliche Inflation abzog. Leithner hingegen tut dies nicht und kommt deswegen auch 7 Prozent Rendite.
Ein Prozent Rendite mag Ihnen unbedeutend erscheinen, spielt auf 67 Jahre gerechnet aber eine enorme Rolle. Während Leithner wie gesagt mit 370.000 Euro Vermögen nach 67 Jahren rechnet, sind es bei Whittaker nur 198.000 Euro – etwas mehr als die Hälfte. Auf 25 Jahre Auszahlung gerechnet, würde sich damit die monatliche Rente von 1240 auf 660 Euro verringern. Alle Werte sind in heutiger Kaufkraft angegeben.
Whittaker geht dabei von durchschnittlich zwei Prozent Inflation in den kommenden 67 Jahren aus. Das ist eine realistische Annahme. Aber sie ist auch gefährlich. Jede 0,1 Prozentpunkte mehr Inflation im Schnitt über 67 Jahre würden die Rente Ihres Kindes pro Monat um 40 Euro schmälern. Bei einem Ausgangswert von 660 Euro wären das rund sechs Prozent weniger.
Was passiert, wenn die Börse kurz vor der Rente crasht?
Nehmen wir an, der Staat würde für Ihr Kind 4000 Euro bei Geburt in einen Staatsfonds einzahlen und anhand der Erträge dieses Fonds ausrechnen, wie sich diese 4000 Euro entwickeln. Ihr Kind würde dann zusehen können, wie sein Vermögen jedes Jahr wächst. Gehen wir davon aus, dass es sehr gut läuft und die von Leithner angenommenen 7 Prozent pro Jahr erwirtschaftet – 66 Jahre lang. Dann läge das Rentenvermögen Ihres Kindes bei 348.000 Euro. Eine enorme Summe. Doch im letzten Jahr vor der Rente gibt es einen Börsencrash und der Dax fällt um 50 Prozent. Plötzlich stände Ihr Kind nur noch mit 174.000 Euro und würde nur noch 580 Euro Rente bekommen – alle Kinder, die ein Jahr eher geboren wurden, freuen sich hingegen über 1240 Euro Rente.
Das wäre unglaubliches Pech für Ihr Kind, aber statistisch gesehen wird es mindestens einen solchen Börsencrash in 67 Jahren geben. Und jeder, der genau kurz danach in Rente geht, wäre dann in Altersarmut. Die FAZ sprach Leithner genau auf diese Schwachstelle seiner Idee an, doch der Börsenchef wischte sie mit einem schellen „Kann sein“ beiseite und wechselte das Thema.
Was passiert, wenn Ihr Kind die Rente gar nicht erreicht?
14,4 Prozent aller Menschen in Deutschland werden das Rentenalter gar nicht erreichen. Bei 700.000 Geburten pro Jahr sind das also rund 100.000 Menschen pro Jahr. Sie sterben vorher an Krankheiten, bei Unfällen, werden ermordet oder begehen Suizid. Was passiert mit diesen Renten? Im aktuellen Umlagesystem der gesetzlichen Rentenkassen spielt dieses Szenario keine Rolle, weil Ihre Einzahlungen nicht an Ihre Auszahlungen gebunden sind. In Leithners System wäre das aber der Fall. Würde sich der Staat hier also an den Ersparnissen bereichern, weil es keinen Rentenbezieher mehr gibt? Oder ließen sich die Anteile vererben und auszahlen?
Hinzu kommen 1,8 Millionen Menschen, die schon vorher eine Rente benötigen, weil sie nicht mehr arbeiten können. Sie bekommen bisher eine Erwerbsminderungsrente, deren Höhe sich an den bisher erworbenen Entgeltpunkten berechnet. Wie würde dies für die Rente ab Geburt berechnet? Oder liefe diese weiter bis zum 67. Geburtstag?
Zu klären wäre auch die Frage, ob die Rente ab Geburt ein universelles Recht qua Geburt ist oder an bestimmte Bedingungen geknüpft wird. So gibt es etwa hunderttausende Auswanderer, die nie oder nur sehr wenig in die deutsche Rentenkasse einzahlen, die vielleicht ihr ganzes Leben außerhalb Deutschlands verbringen. Wären sie und ihre Kinder anspruchsberechtigt?
Fazit: So lösen wir unser Rentenproblem nicht
Dass eine kapitalgedeckte Form der Rentenfinanzierung sinnvoll ist, ist mittlerweile unbestritten. Leithners Schlussfolgerung, mit 4000 Euro pro Kind würden wir unser Rentenproblem lösen, ist allerdings Unsinn. Das geht schon deswegen nicht, weil sein Konzept erst ab 2092 Effekte zeigen würde. Selbst der ursprüngliche Verfechter der Idee, Whittaker, ging nicht so weit. „Die Rente werden wir nur mit vielen kleinen Schritten reformieren können, eine einzige Maßnahme wird sie nicht retten“, sagte er 2021.